„Warum gehen wir nicht an Land?" fragte Lena. „Gleich, Kleine, gleich", antwortete Sergej Michailowitsch eilfertig. „Einstweilen liegen wir vor Anker. Wir müssen überlegen, an welchem Ufer wir festmachen können."
Als er sah, daß Jurka eine mißmutige Grimasse zog, legte er einen Finger auf die Lippen. Das sollte heißen: Halt mir ja den Mund! Jurka wiegte kraftlos den Kopf. Entsetzt, zugleich voller Hoffnung blickte er Sergej Michailowitsch an. Der wußte auch keinen Rat. Er winkte den Jungen heran und forderte ihn auf, sich neben Lena zu setzen.
„Warte", raunte er ihm zu, bemüht, seiner Stimme einen festen Klang zu geben, „wir werden uns schon etwas ausdenken." Danach ging er zu Ljoscha.
„Wie hast du mich bloß gefunden?" fragte Lena erstaunt. „Und wo sind die anderen?"
„Ich — ich kam zufällig vorbei — und — und da sah ich die Barke — und — und da dachte ich, daß du hier bist."
„Und wo sind Petka und Dimka?"
„Zu Hause", log Jurka. Er dachte: Hauptsache, daß Lena jetzt nichts merkt. Er hatte Angst, schluckte sie aber tapfer hinunter. Immer wieder schlug ihm das Gewissen. Er kam sich schlecht vor, weil er die Freunde »im Stich gelassen hatte. Sein einziger Trost war der Gedanke, daß er einen Teil seiner Schuld tilgen könnte, wenn er jetzt besonders tapfer wäre.
„Wir waren im Lager", sagte er schnell und so laut, daß die Furcht nicht durchklang, „trafen dich leider nicht an. Sergej Michailowitsch hat uns einen Kompaß geschenkt. Wenn du in unsere Siedlung kommst, mußt du mich besuchen. Ich habe einen Freund. Er heißt Pawel und spielt Gitarre."
„Warum schreist du so?" fragte Lena.
„Ich habe nun mal ein lautes Organ", erwiderte Jurka.
Im Bug der Barke berieten sich Sergej Michailowitsch und Ljoscha. Jurka sah, daß sich Sergej Michailowitsch bis auf die Turnhose auszog und wieder herüberkam.
„Lena, Kleine, ich schwimme ans Ufer. Weißt du wir haben keine Ruder, und das kleine Boot von den Jungen ist längst abgetrieben. Ich werde drüben ein Tau befestigen. Die Strömung trägt euch ans Ufer."
Lena schauderte zusammen. „Das Wasser ist eiskalt."
„Heiß ist es nicht", gab Sergej Michailowitsch zu, „aber ich werde schon nicht erfrieren. Als Junge habe ich immer brav meinen Lebertran getrunken. Das kommt mir heute zugute." Er tat sehr aufgeräumt, lächelte sogar. Nur seine Augen verrieten, wie ihm wirklich zumute war.
Jurka sah ihn furchtsam an. Dann wanderte sein Blick flußab. Vor den Strdmschnellen schimmerten schaumbedeckte Steine. Sergej Michailowitsch wußte, was in dem Jungen vorging.
„Trinkst du Lebertran, Jurka?" fragte er.
Jurka schwieg. Er war nicht zum Scherzen aufgelegt. Sergej Michailowitsch erwartete auch keine Antwort. Beim Erzählen hatte er sich einen dicken Strick um die Hüften gebunden.
Jetzt trat er ans Ende des Decks. Einen Augenblick schien es Jurka, er wollte den Spaß nur auf die Spitze treiben.
Dann freilich, als Sergej Michailowitsch tatsächlich sprang, bekam er eine Gänsehaut. Die Strömung riß den Schwimmer fort. Als sein Kopf wieder auftauchte, sah man, daß er dem Ufer zustrebte. Die Welle, die sich beim Aufschlag gebildet hatte, trieb schon vor ihm. Jurka meinte, im Vergleich zur Geschwindigkeit des Wassers seien die Armbewegungen viel zu langsam.
Der Strick spannte sich in einem weiten Bogen. Wie irrsinnig zerrte die Strömung daran, und Ljoscha gab nach. Den Strick länger festzuhalten, hätte bedeutet, Sergej Michailowitsch am Weiterschwimmen zu hindern.
Eine Minute verstrich, vielleicht auch mehr.
Weit von der Barke entfernt, kurz vor den Steinen, zeigten sich auf den Wellen zwei Arme und ein Kopf.
Der Strick zog in einer geraden Linie hinterher. Dann bemerkte Jurka, daß Sergej Michailowitsch nicht mehr auf das Ufer zuschwamm, sondern in die Flußmitte getrieben wurde.
Bis der Schwimmer die Stelle erreicht hatte, wo das Wasser schäumte und brodelte, sah er die Arme, die sich in langsamem, gleichmäßigem Rhythmus aus dem Wasser hoben.
Dann war von Sergej Michailowitsch nichts mehr zu erblicken.
„Ist er schon am Ufer?" fragte Lena.
„Er hat sich losgebunden", erwiderte Ljoscha niedergeschlagen.
„Ljoscha!" schrie Jurka, weiter nichts, nur dieses eine Wort, doch Ljoscha regte sich auf und begann gleichfalls zu schreien.
„Was heißt Ljoscha? Was willst du damit sagen? Ich kann nicht schwimmen. Verstehst du? Ich bin in der Steppe aufgewachsen. Hast du gehört? Denkst du, ich hätte es sonst nicht selber besorgt!" Er schwieg eine Weile. Als er wieder sprach, klang seine Stimme böse: „Dann gehen wir eben hier zugrunde. Ich kann es auch nicht ändern."
Lena stand mit zitternden Lippen dabei.
„Wo ist Onkel Serjoscha?" fragte sie.
Jurka sah sie an. Er empfand keine Angst mehr. In ihm regte sich eine große Wut, genau wie in Ljoscha, ein unbändiger Zorn auf den reißenden Fluß, die Stromschnellen, den untauglichen selbstgefertigten Anker. Jurka verspürte den Wunsch, von der Barke zu springen und mit geballten Fäusten auf die verhaßten Wellen einzuschlagen.
„Ich kann schwimmen", sagte er.
„Na und?" meinte Ljoscha gleichmütig. Kaum hatte er es gesagt, horchte er auf und flüsterte: „Was denn, Junge, du willst es doch nicht etwa versuchen?"
„Ich bin ein guter Schwimmer", erwiderte Jurka.
„Ich weiß genau Bescheid. Man muß in der Fahrrinne bleiben und nicht mit Gewalt ans Ufer wollen. Da kommt man schon durch. Ich hole Hilfe."
„Ja", sprach Ljoscha leise, „tu das." Er beugte sich zu Jurka herab, um ihm ins Ohr zu flüstern:
„Schwimme, Junge, schwimme. Hier gehen wir doch bloß vor die Hunde. Vielleicht kannst du das Mädchen retten."
Für einen Augenblick bedauerte Jurka, daß Lena ihn jetzt nicht sehen konnte.
Aber als er am Heck stand, hatte er wieder Angst. Der Fluß zischte und tobte wie ein gereiztes Ungeheuer.
„Gleich springe ich", sagte Jurka kleinlaut. Ljoscha stand an seiner Seite. Er machte keine Bewegung, sagte weder „spring!" noch „spring nicht!"
Und Jurka löste sich vom Deck.
Als er aus dem Wasser auftauchte, sah er zurück. Die Barke erschien ihm winzig wie ein Spielzeugschiff. Er schwamm. Wieder zogen die Ufer vorbei. Die Unterwasserströmung knuffte ihn in den Leib wie mit aufgeblasenen Luftballons.
Unweit von ihm drehte sich ein Strudel, kreiselte auf ihn zu. Jurka strebte zur Seite, aber der Strudel folgte, holte ihn ein, glitt an seinen Beinen weiter und zerrann.
Jurka richtete den Blick nach vorn, wo zwischen den Steinen die enge Rinne auftauchen mußte. Hinter den Wellen war nichts zu sehen. Er fühlte nur, daß die Strömung zunahm. Sie schmiegte sich fest an den Körper wie Gummi und drang mit tausend kalten Wirbeln auf ihn ein.
Dann kam die Pforte auf ihn zu. Ganz dicht standen die beiden steinernen Wände beieinander. Dahinter verschwanden die Ufer. Hoch spritzte der Schaum in die Luft. Er peitschte das Gesicht. Da — unmittelbar vor den Augen war ein Felsblock, groß, glatt, und verschwand hinter dem Gischt einer daraufprallenden Welle. Unbeweglich, eine Säule gleich, stand das weiße Wasser vor dem Stein.
Als Jurka ans Land getrieben wurde und aus dem Wasser stieg, sah er diese Gischtsäule noch vor sich. Sie stand erstarrt in der Luft, als hätte er sie mit einer Kamera aufs Bild gebannt. Wäre er gefragt worden, ob es schlimm gewesen sei, durch die Stromschnellen zu schwimmen, hätte er keine Antwort gewußt. Er konnte nicht sagen, ob er Angst gehabt hatte, erinnerte sich überhaupt an nichts als an die eigenartige Empfindung der zunehmenden Geschwindigkeit, an das ins Gesicht klatschende Wasser und jene sonderbare, reglos in der Luft stehende Gischtsäule, die den Felsblock verdeckte.
Jurka lief über eine Landzunge, kroch die Böschung hoch, war schon in der Taiga. Weil er es so eilig hatte, übersah er die Fußspur, die sich nicht weit entfernt von seiner eigenen durch den Sand zog.