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Zweitens aber ist Ust-Kamensk ein Stück Welt für sich: Taiga, Wasser, Fische aus dem Jenissej. Große Bedeutung besitzt die Stadt als Umschlagsort für zahlreiche Lebensmittel und Bedarfsgüter, die von hier in Hunderte Dörfchen und Siedlungen wandern. Für das Eigenleben von Ust-Kamensk gibt es einen besonderen Kalender. Darin heißt es: „Das geschah zwei Tage vor Ankunft der ,Irtysch'" oder „Erinnerst du dich nicht, als der Elch in die Siedlung kam?" Nach dem diesjährigen Sommer wird man noch lange Zeit sagen: „Als die Barke der Expedition in den Stromschnellen zerschellte", oder,,Als sich der Lehrer das Gesicht verbrannte."

Der Einwohner von Ust-Kamensk ist kein Freund vieler Worte. Während der Winterszeit gefriert das Quecksilber in den Thermometern. Der Jenissej spielt mit den Fischerbooten und bringt sie zum Kentern. Schon die einfachen, alltäglichen Verrichtungen erfordern ganzen Einsatz. Dies ist der Grund, weshalb in Ust-Kamensk Vokabeln wie „Mut" oder „Heldentum" unbekannt sind. Wenn hier jemand gelobt werden soll, heißt es: „Das hat er richtig gemacht." „Richtig" ist die höchste Auszeichnung, die hier ein Mensch erwerben kann. Von Viktor Nikolajewitsch sagt man seit damals: „Der ist richtig." Von Sergej Michailowitsch: „Richtig, daß er losgeschwommen ist, sonst wären sie alle umgekommen."

Von Jurka sprechen die Leute in der gleichen Weise, nur daß sie bei ihm noch hinzusetzen: „So ein Bursche!", weil Jurka ein Junge ist, von dem man schwerlich dasselbe verlangen kann wie von einem Erwachsenen. 

An jenem Tage, als er durch die Stromschnellen geschwommen war, suchte Viktor Nikolajewitsch zwei Stunden lang nach den Jungen. Als er aus der Taiga zurückkehrte, hatte er viele Brandwunden am Körper, seine Kleidung war zerfetzt, die Schuhe befanden sich in einem Zustand, daß man mit Sicherheit sagen konnte, sie würden nie wieder so schön grau aussehen, wie früher.

Jurka, in durchnäßter Turnhose und von oben bis unten mit Kratzern bedeckt, war in die Siedlung gelaufen. 

Auf der Dienststelle der Miliz traf er Sergej Michailowitsch, der ihn mit sonderbarer, unerträglich ruhiger Brummelstimme empfing: „Was suchst du hier? Scher dich nach Hause, sonst holst du dir einen Schnupfen."

„Sie sitzen hier rum?" keuchte Jurka außer sich vor Entrüstung. „Und die anderen warten."

„Warten? Wieso?"

„Na, auf der Tunguska."

Jetzt war es an Sergej Michailowitsch, sich zu  wundern. „Wovon sprichst du?"

Er ist verrückt geworden, dachte Jurka entsetzt, er schlürft hier sein Glas Tee und sieht völlig normal aus, aber er hat etwas abgekriegt.

„Und Sie sitzen hier rum", keuchte er nochmals. „Ich begreife nicht, was du willst", erwiderte Sergej Michailowitsch. „Komm, ich bringe dich nach Hause. Die Aufregung war zuviel für dich."

Jurka blickte sich verzweifelt nach allen Seiten um. Als er sah, daß sonst niemand im Raum war, rannte er zur Tür, aber Sergej Michailowitsch erwischte ihn an der Hand und sagte sanft: „Jurka, versuch doch einmal, dich zu erinnern. Ein Hubschrauber ist gekommen, hörst du, ein Hubschrauber, der hat euch alle fortgeholt. Vor ein paar Minuten wurde hier angerufen und Bescheid gegeben. Der Hubschrauber hat alle an Bord genommen. Du bist auch im Hubschrauber gewesen. Erinnerst du dich jetzt?"

„Das ist nicht wahr!" rief Jurka. „Ich bin geschwommen. Wir dachten, Sie sind ertrunken."

Nun begriff Sergej Michailowitsch endlich, was geschehen war. Er ließ Jurkas Hand los und schüttelte ihn an den Schultern. „Ach, so ist das? Jurka sei mir nicht böse, entschuldige. Das konnte ich nicht ahnen." 

Ljoscha und Lena hatte der Hubschrauber tatsächlich aus ihrer mißlichen Lage befreit. Eineinhalb Stunden später trieben die Trümmer der Barke an Ust-Kamensk vorbei.

Nur den Hafenmeister fand niemand.

Der Matrose, der mit dem Fernglas beobachtet hatte, wie das Boot umschlug und Pawel sich daran festklammerte, rief einen Kutter zu Hilfe. Als der Kutter kam, war es zu spät. Kein Mensch wußte, weshalb Pawel ertrunken war. Eine halbe Stunde hätte er doch auf dem gekenterten Boot aushalten müssen, selbst bei diesem Sturm. So viel geschah an einem einzigen Tag in Ust-Kamensk, das dort liegt, wo sich zwei mächtige sibirische Flüsse vereinen.

Auf diesen Tag folgten andere. Sie brachten neue Ereignisse, neue, bedeutsame Entdeckungen. So wird es weitergehen, bis abermals der Winter kommt und mit seinem Schnee das Städtchen zudeckt, das dann wieder schlafmützig gähnend auf den Sommer wartet.

Doch zunächst geschah folgendes: Die Eltern empfingen Jurka mit großer Freude. Nie im Leben wird seine Mutter die Qualen vergessen, die sie durchstehen mußte. Wenn sie daran denkt, steigen ihr noch heute heiße Tränen in die Augen, teils aus Mitleid mit Jurka und sich selber, teils aus Freude darüber, daß noch einmal alles gut gegangen ist, während es doch viel schlimmer hätte auslaufen können. Gleich als sie ihren Sohn wiederhatte, wurde ein riesiges Schloß besorgt. Damit legte sie das orangefarbene Boot an eine schwere Kette. Jurka aber wurde strengstens untersagt, jemals wieder an den Fluß zu laufen, falls er nicht wollte, daß seine Mutter vorzeitig an einem Herzschlag sterbe. Vom Vater erfuhr Jurka, wie Petka und Dimka aus dem brennenden Wald gerettet wurden Drei Tage später stand Petka unter dem Fenster auf der Straße und beschwor den Freund, herauszukommen.

Jurka schüttelte den Kopf. „Das geht nicht, ich bin eingeschlossen."

Da rieb sich Petka verzweifelt den Hals, was heißen sollte: Du mußt kommen, es ist ungeheuer wichtig. Das war zuviel für Jurka. Er kletterte durchs Fenster. Petka erzählte ihm, daß Pawel ertrunken sei.

Jurka ging neben dem Freund durch die Straße. Alle Häuser waren winzig klein geworden, als betrachtete er sie durch ein umgedrehtes Fernglas. Ohne es zu merken, schlug er die Richtung zu Dimka ein. So war es seit eh und je gewesen: Was sie unternahmen, unternahmen sie zu dritt.

Heute aber meinte Petka geringschätzig: „Den brauchen wir nicht."

Jurka überhörte, was der Freund sagte. Seine Gedanken weilten bei Pawel, der ihm ein lieber Kamerad gewesen war. Wie oft hatten sie in seinem Zimmer von großen Seefahrten geplaudert, ohne bei diesem unerschöpflichen Thema je zu ermüden. Pawel war der einzige Mensch gewesen, der Jurka verstanden und seine verworrenen Pläne ernst genommen hatte.

Wortlos kam Dimka durchs Fenster geklettert. Offenbar war er eingeschlossen. 

„Schade", lautete seine erste Bemerkung, als er draußen stand. „Meinst du nicht?" 

„Halt ja die Klappe", entgegnete Petka, „dich geht es am allerwenigsten an." 

Dimka zuckte zusammen, schwieg aber, als wäre es Petkas gutes Recht, ihm so über den Mund zu fahren. 

Jurka hatte wieder nichts gehört. Vor dem Häuschen am Hafen trafen sie seinen alten Feind, den Matrosen. Zu viert gingen sie die Treppe hoch. 

In der Schreibmaschine steckte ein Briefbogen, Pawels engzeilig geschriebenes Gesuch.

„Hier hat er gesessen und getippt, als ich eintrat", erklärte der Matrose. „Es ist nicht seine Maschine. Er hat sie sich geliehen. Wißt ihr nicht, von wem?"

Jurka spannte den Bogen aus. Er überflog die ersten vier Zeilen.

„Lies vor", sagte der Matrose. „Das interessiert alle."

Jurka fand, daß der Matrose recht hatte, und las: