„An den Leiter der Jenissej-Schiffahrtsgesellschaft
Ich wurde im Jahre 1936 im Dorf Maima geboren. Das ist in der Taiga. Um das Ziel der siebenten Klasse zu erreichen, mußte ich eine Schule besuchen, die fünf Kilometer von unserem Dorf entfernt lag. Da ich den festen Willen hatte, etwas zu lernen, versäumte ich im Herbst und bei Schlammwetter keine einzige Stunde, höchstens im Winter bei starkem Frost. Mein Vater hatte eine schlechte Schulbildung genossen, aber er war ein guter Jäger. Er brachte mir schon beizeiten das Schießen bei. Bald traf ich ein Eichhörnchen nicht schlechter als ein Erwachsener. Wenn ich durch die Taiga wanderte, dachte ich immer darüber nach, wie es später sein werde. Sie, Genosse Vorgesetzter, haben früher bestimmt auch oft überlegt, welchen Beruf Sie ergreifen sollten.
Ich änderte meine Pläne häufig und konnte mich für nichts richtig entscheiden. Ich weiß, daß man beharrlich auf ein Ziel zusteuern muß, wenn man etwas erreichen will. Lange Zeit hatte ich jedoch kein festes Ziel. Ich werde gleich erklären, warum.
Wir lebten in der öden Taiga. Ringsum war nichts als Wald. Höchstens sah man mal einen Dampfer auf dem Fluß oder eine Barke, und bisweilen kam auch ein Flugzeug über unser Dorf. Natürlich las ich viele Bücher. In der Schule hörte ich, daß es verschiedene Staaten gibt. Aber über das Leben zu hören und zu lesen ist etwas anderes, als alles mit eigenen Augen zu sehen.
Bei uns in der Taiga gibt es Blumen, die wir die ,Unzertrennlichen' nennen. Das tun wir deshalb, weil sie immer paarweise aus einer Wurzel sprießen, und nie verwelkt eine allein, jedesmal auch die andere. Im Frühjahr kommen die Unzertrennlichen heraus. Sie blühen nur kurze Zeit, haben aber einen wunderschönen und kräftigen Duft.
Ich könnte zehn Seiten schreiben, Genosse Vorgesetzter, nur über diese Blumen. Sie würden es lesen, aber am Ende doch nicht wissen, wie sie aussehen und riechen oder welche Farbe sie haben. Das ist ein eigenartiger Duft. Wenn man ihn kennenlernen will, muß man dorthin gehen, wo die Unzertrennlichen wachsen.
Ich denke, daß es mit vielem grad ist wie mit diesen Blumen. So manches hat etwas Besonderes und Einmaliges an sich. Ein Lehrbuch oder eine Unterweisung nutzt da nicht viel. Man muß es mit eigenen Augen gesehen haben. Ich bin aber in der Taiga aufgewachsen, hab wenig kennengelernt. Im Leben fand ich mich daher schlecht zurecht, ich hatte kein richtiges Ziel.
Als ich das erstemal einen Traktor sah, stand mein Entschluß fest. Ich mußte Traktorist werden. Das weiß ich noch wie heute. Dann kamen Geologen ins Dorf, und ich wollte natürlich Geologe werden. So war es stets. Wenn ich etwas Neues kennenlernte, änderte sich mein Berufswunsch. In unserem Land gibt es vielleicht hunderttausend verschiedene Berufe. Wie soll man da den richtigen herausfinden?
Aber es soll doch ein Beruf fürs ganze Leben sein. Nach Abschluß der siebenten Klasse erhielt ich die Möglichkeit, eine Fachschule für Flußschiffahrt zu besuchen. Ich fragte meinen Vater, ob ich den Vorschlag annehmen sollte oder nicht. Er sagte: ,Als ich in deinem Alter war, habe ich meine ersten langen Hosen angezogen. Und du willst gleich Kapitän werden. Grünschnabel. Arbeite erst im Kolchos.' Meine Mutter aber sagte: Jawohl, Junge, geh zur Flußschiffahrt, dort wirst du gut bezahlt.'
Auf der Fachschule hatte ich lauter Einsen und Zweien. Jetzt glaubte ich, den richtigen Beruf gefunden zu haben. Im Sommer kamen wir alle zum Praktikum auf das Motorschiff ,Ural'. Wir fuhren den Jenissej runter bis zum Meer. Ich sah die Ozeanriesen, die dort vor Anker lagen. Wenn sie in See stachen, stand ich am Kai und blickte ihnen lange nach.
Denken Sie nicht, sehr geehrter Genosse Vorgesetzter, daß es mir nur das Spiel der Wellen und die übrige Romantik angetan haben. Ich weiß nicht, wie man es erklären soll, aber mein Gefühl sagt mir, daß ich erst dann Ruhe finden werde, wenn ich auf einen Überseedampfer komme.
Als ich die Schule beendet hatte, wurde ich in Ust-Kamensk als Hafenmeister eingesetzt. Sie wissen natürlich genausogut wie jeder andere, daß hier von einem richtigen Hafen überhaupt nicht die Rede sein kann und daß die Bezeichnung ,Hafenmeister' folglich nur als reine Ironie aufzufassen ist. Arbeit gibt es für mich herzlich wenig, während der Winterszeit gar nicht. Auf diesen Posten sollte man einen Invaliden stellen, der nicht mehr schwimmen kann. Mich aber bitte ich zur Seeschiffahrt zu versetzen, wenn auch als einfachen Matrosen.
Ich ersuche Sie inständig, meine Bitte nicht abzuschlagen. Als Kommunist müßten Sie verstehen, daß ich ohne Meer nicht leben kann.
Mit den besten Grüßen
P. A. Syrjanow, Hafenmeister."
„Das schicke ich an die Zeitung", verkündete der Matrose, als Jurka geendet hatte. „Das müssen sie drucken."
Jurka dachte daran, daß sich Pawel ein ganzes Jahr lang erfolglos bemüht hatte, Pfeife rauchen zu lernen. Dieser Gedanke erschien ihm häßlich und fehl am Platze. Er versuchte ihn zu verscheuchen, aber es gelang ihm nicht. Wie ein Gespenst verfolgte ihn die Vorstellung dieser Pfeife mit dem Ring am Mundstück, obwohl es sicher weitaus Wichtigeres gab. Ein wenig später mußte Jurka daran denken, daß sich Pawel täglich mehrmals rasiert hatte. Der Bart wollte indes nicht wachsen. Zum Gaudium aller hatte Pawel in der Illusion gelebt, man müsse die zarten Stoppeln immer wieder abschaben, damit sie sich kräftigen. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, Seemann zu werden, und um dieses Ziel zu erreichen, keine Mühe gescheut: Anträge geschrieben, bei Wind und Wetter seinen Körper gestählt. Trotz allem war er der Hafenmeister geblieben.
Auf einmal verspürte Jurka den Wunsch, durch Ust-Kamensk zu laufen, von Haus zu Haus, und allen Pawels Brief vorzulesen, damit jeder Einwohner der Stadt erfuhr, was für ein Mensch der Hafenmeister gewesen war. Und das war die erste Entdeckung. In flammenden Worten wollte er von seinem toten Freund berichten.
Als die Jungen in der Siedlung anlangten, fragte Jurka: „Glaubt ihr, daß es in die Zeitung kommt?"
„Aber klar", erwiderte Dimka ohne Zögern. „Das wäre ja noch schöner."
„Du halt den Mund", murmelte Petka vor sich hin. „Dich geht es einen großen Dreck an."
Diesmal wurde Jurka aufmerksam. Er wunderte sich, daß Dimka alles schweigend einsteckte. Früher wäre das unmöglich gewesen.
Lena kehrte in die Taiga zurück. Mit ihr gingen Sergej Michailowitsch und Ljoscha.
Atlantis war noch immer unentdeckt. Das blaue Heft lag auf dem Fensterbrett. Die Erwachsenen machten sich ihre Gedanken und lächelten. Es ist schön, an seine eigene Kindheit erinnert zu werden. Eines Tages erteilte Frau Issajewa ihrem Großen einen Rat: „Ihr müßtet euren Lehrer mal besuchen. Er sieht ganz entstellt aus, der Ärmste, so hat er sich verbrannt."
„Daran haben wir auch schon gedacht", entgegnete Petka. „Es ist mir nur furchtbar peinlich." „
Warum peinlich?"
„Du verstehst auch gar nichts", meinte der Große. Trotzdem gingen sie ins Krankenhaus. Durch die Straßen schritten sie wie in alten Tagen, Schulter an Schulter. Dennoch stellte Jurka fest: Zwischen Dimka und Petka stimmt etwas nicht. Dimka benahm sich urkomisch, war abwechselnd fröhlich und ernst, beides ohne erkennbaren Grund. Sobald Petka den Mund öffnete, wurde er mucksmäuschenstill und kuschte sich wie ein Hündchen. Den richtigen Dimka schien es nicht mehr zu geben. Der dort ging, tat nur so, als wäre er Dimka.
„Ihr seid wie Hund und Katze", sagte Jurka.
Dimka biß sich auf die Lippen. Er schielte Petka an.
„Das bildest du dir ein", behauptete Petka.
Sogleich eilte ihm Dimka zu Hilfe: „Wir haben keinen Grund, uns zu streiten. Wer hat dir das eingeflüstert?"
Ins Krankenzimmer gingen sie zu zweit. Petka blieb draußen. Er stand unter dem Fenster.