Stimmte denn das alles? Wenka blickte Sykow an. Der Maschinist machte ein ernstes Gesicht. Da gab es also tatsächlich einen Mann, der sich verborgen hielt, weil ihm das Geld leid tat, das er Frau und Kind schicken sollte! Wie war so etwas möglich? Wenka stellte sich vor, was wäre, wenn sein Vater plötzlich auf den Gedanken käme, sich zu verstecken, und die Mutter am Tisch säße, um einen Brief zu schreiben Aber das war Unsinn. Vater würde dergleichen nie fertigbringen.
Wenka preßte den Brief in der Hand, die auf einmal feucht geworden war, und rannte los, um Schawrow zu suchen.
Er traf ihn im Wohnheim, allein.
„Nehmen Sie bitte den Brief", sagte Wenka. Schawrow lachte. Er ging an die Tür und machte sie zu.
„Du bist doch ein kluger Junge", begann er heiter, „noch dazu einer mit Charakter. Weißt du, wir machen es folgendermaßen. Du schreibst ,Empfänger verzogen' auf die Quittung. Schon ist alles in Butter. Na komm, sei kein Spielverderber."
„Nein, das geht nicht."
„Du brauchst nicht zu denken, daß es umsonst sein soll. Das verlangt kein Mensch." Schawrow kniff ein Auge zu. „Da, steck ein, das ist deins."
Auf dem Tisch lag ein Jagdmesser mit roter Scheide und einem Griff aus Kunststoff. Auf der Klinge war eine Rinne angebracht. Damit das Blut abfließen kann, überlegte Wenka. Er brauchte nur die Hand auszustrecken, und schon gehörte das Messer für immer ihm. Der Gedanke an die Blutrinne ließ ihn erschauern.
„Nehmen Sie den Brief", flehte er, „ich muß weiter."
„Wie du willst." Schawrow ließ das Messer im Tischkasten verschwinden. „Warte einen Augenblick." Er ging hinaus.
Wenka wartete eine halbe Stunde. Als noch immer niemand kam, verließ er das Heim. Von der Außentreppe aus sah er die Menschen, die bei den Booten standen und sich anschickten, auszufahren. Zwischen den vielen Köpfen leuchtete Schawrows weiße Schirmmütze.
Mit einem Satz war Wenka unten. Er lief zum Ufer. „Nehmen Sie den Brief", rief er Schawrow zu, als er die Boote erreicht hatte.
„Mach nicht solchen Lärm", zischte Schawrow ungehalten. „Gib ihn mir morgen."
Wenka war tief gekränkt. Mit bleichem Gesicht stand er vor Schawrow, hielt den Brief in der ausgestreckten Hand und wiederholte: „Nehmen Sie ihn, nehmen Sie ihn!"
Viel hätte nicht gefehlt und er wäre in Tränen ausgebrochen.
Die Fischer merkten, daß etwas nicht stimmte. Sie kamen heran. Mit ernsten Augen betrachteten sie den Jungen und den Mann. Noch begriff niemand von ihnen, was vorging.
„Also gib her!" Schawrow lachte auf. Mit einer schwungvollen Unterschrift bestätigte er den Empfang des Briefes. „Dann ist mein Lohn eben futsch."
Wenka steckte die Quittung ein. Als er zu seinem Boot ging, rief ihm Schawrow nach: „Hast du das Messer nicht gestohlen? Sonst rück's raus. Ich werde nachsehen."
„Paschka, halt die Luft an", wies ihn ein Fischer zurecht. „Laß den Wenka in Frieden. — Na, Postbote, weiter hast du nichts?"
Der „Postbote" drehte sich nicht um. Er schüttelte den Kopf.
Inzwischen hatte die Ebbe begonnen. Das Meer war zurückgegangen. Wenkas Boot lag auf dem Trockenen. Der Junge stemmte eine Schulter gegen den Rand, er schob und stieß, mußte jedoch einsehen, daß er allein nichts ausrichten konnte. Das Boot rührte sich nicht von der Stelle. Bis zum Wasser waren es drei Meter. Da gab er sich geschlagen, kletterte hinein und setzte sich auf die Bank. Immer weiter wich das Meer vom Ufer zurück. Er kniff die Lippen zusammen und schaute griesgrämig zu. Es war wie das unentwegte Vorrücken eines Minutenzeigers — eine Bewegung, die man bemerkt und gleichzeitig nicht bemerkt. Man braucht nur eine Weile die Augen zu schließen und dann wieder zu öffnen, um zu sehen, daß der Zeiger inzwischen auf den nächsten Strich gerückt ist.
Während Wenka noch seinen Betrachtungen nachhing, rief jemand: „Sonnst dich wohl, Postbote?"
Wenka fuhr herum. Hinter ihm standen zwei Frauen, die er nicht kannte. Sie trugen einen Korb mit Salz, setzten ihn am Strand ab und lachten spöttisch. Wenka starrte mürrisch vor sich hin. Von der Ebbe überrascht zu werden ist eine Schande für jeden Seemann, auch wenn er nichts dafür kann.
Doch die Frauen waren gar nicht so. Sie griffen in die Rudergabeln und schoben das Boot mitsamt dem auf der Bank hockenden „Briefträger" ins Meer.
„Schönen Dank auch", riefen sie ihm nach. Endlich kam Wenka zu sich. „Ja, schönen Dank", murmelte er verwirrt. Die Frauen hoben lachend den Korb an.
Wieder war da der Pfad, zog wie ein feuriger Schweif hinter dem Boot her. Ständig begleitete er Wenka. Der ruderte, ohne sich umzublicken. Die Richtung stimmte, solange die Bootsspur auf dem diamantenen Pfad blieb und es schien, als habe er ihn selber angelegt.
Über der Hügelkette, die das Ufer säumte, hingen reglose Haufenwolken. Man hätte sie für eine Fortsetzung des Höhenzuges halten können. Von den Hängen ergossen sich Lichtströme aufs Meer. War das ein Blitzen und Gefunkel überall! Wenka fand, Menschen wie Schawrow dürfte es nicht geben, dann wäre die Welt noch schöner.
Dreißig Meter vom Boot entfernt stieß der Kopf einer Robbe aus dem Wasser. Das Tier blickte Wenka mit scheuen, in ewiger Furcht geweiteten Augen an. „Hier ist ein Brief für Sie, ich bitte um Ihre Unterschrift!" schrie Wenka hinüber.
Lautlos tauchte der Robbenkopf unter, war plötzlich verschwunden, wie in Nichts aufgelöst. Wenka spürte Erleichterung. Er wurde fröhlich, als hätte er es Schawrow tüchtig gegeben.
Das Boot fuhr am Ufer entlang. In der Ferne erhob sich eine bewaldete Insel, schien schaukelnd und schwankend auf dem Meer zu treiben. An dieser Stelle wußte Wenka jedesmal, wieviel Ruderschläge noch zu tun waren.
„Tausendzweihundert", murmelte er vor sich hin und begann zu zählen: „Eins — und zwei — und drei..."
Als er bei sechshundert angelangt war, blickte er wieder hinüber. Noch immer trennte ihn eine große Strecke von der Insel. Wenkas Bewegungen wurden ruhiger. Er zog die Ruder langsam durch und hielt sie eine Weile in der Luft, bevor er sie erneut ins Wasser senkte.
„Tausendeinhundert und..."
Endlich war zu hören, wie im Rücken die Wellen mit leisem Geplätscher ans Ufer rollten, was bedeutete, daß die Entfernung bis zur Insel noch dreißig Meter betrug. Jetzt ruderte Wenka hastig, mit kurzen Schlägen.
„Hundertundeins — hundertundzwei..." Bei tausendeinhundertsiebenundneunzig schurrte das Boot über die Ufersteine. Zufrieden streckte Wenka den schmerzenden Rücken. Das letztemal hatte er sich um zehn Ruderschläge verrechnet.
Er kletterte auf das mit Flechten bedeckte Geröll und wickelte sein Essen aus: zwei mit Steinbutt belegte Butterschnitten — Frühstück und Mittagbrot. Er verspeiste beides auf einmal. Während der Mahlzeit lag er auf dem Bauch und spürte, wie die Wärme der erhitzten Kiesel durch die Kleidung drang. Mit behaglichem Schmatzen plätscherten Wellen gegen die Steine, spritzen an ihnen hoch und wichen zurück ins Meer. Wenn Wenka die Augen schloß, war ihm, als zittere und schwanke das Geröll unter seinem Körper gleich dem Boot, mit dem er hergerudert war.
Er hätte gern ein wenig geschlafen, aber dazu war keine Zeit. Um die Müdigkeit abzuschütteln, stand er auf und hüpfte mehrere Male an der gleichen Stelle.
Als sich das Boot fünfhundert Meter von der Insel entfernt hatte, begann Wenka wieder zu zählen, allerdings ohne ein einziges Mal den Kopf zu heben und sich zu orientieren. Die Folge war, daß er auf eine ganz zufällige Zahl kam: siebenhundertdreiunddreißig.
Der Strand war steinig. Hinter einem schmalen Uferstreifen begann die steile, von Felsblöcken übersäte Böschung. Hier gab es keinen Pfad, Wenka mußte auf allen vieren kriechen und sich an den drahtigen Wacholderbüschen festklammern. Als die höchste Stelle erreicht war, verschnaufte er ein wenig. Dann begann der Abstieg. Um nicht ins Rutschen zu kommen, rannte er von Stein zu Stein.