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Vor einem Häuschen — der zeitweiligen Unterkunft einer Feldmesserabteilung — standen mehrere Arbeiter. Als sie Wenka bemerkten, beugte sich einer über das Dreibeinstativ und richtete das Beobachtungsfernrohr des Theodoliten auf den näher kommenden Jungen.

,,Wir grüßen die Post", rief er. „Aber warum läufst du denn nicht wie ein normaler Mensch?"

 „Wie laufe ich sonst?" fragte Wenka.

 „Guck mal hier durch."

Wenka stellte sich ans Fernrohr. Anfangs begriff er gar nichts. Himmel und Erde waren vertauscht. Die Wolken segelten unten, die Hügel standen kopf, wie Eiszapfen hingen daran die Tannen. Na, ich danke, dachte Wenka, ich muß eine sehr komische Figur abgegeben haben.

„Gehen Sie doch auch mal ein Stück", bat er, „vielleicht bis zu diesem Stein dort."

„Wir haben das Gehen satt", erwiderte der Arbeiter, der neben dem Fernrohr stand, „seit dem Frühjahr ziehen wir durch die Gegend. — Für wen hast du was mitgebracht?" „Für Lisunow."

„Also für mich."

In Wenkas Hand raschelte ein zerknitterter Brief. Lisunow riß den Umschlag auf. Beim Lesen schien er allmählich zu entrücken. Ein ungläubiges Lächeln stahl sich über sein Gesicht. Wenka befürchtete, auch Lisunow könnte den Brief sogleich zurückweisen. Auf einmal wurden ihm alle diese Menschen zuwider. Außerdem war er wütend, weil Lisunow ihn in dieser komischen Stellung gesehen hatte.

Das Lächeln wurde breiter. Lisunow meckerte los, leise zuerst, dann lauter. Schließlich riß er sich die Mütze vom Kopf und schleuderte sie auf die Erde.

„Briefträger", jubelte er, „was sagst du nun dazu? Ist das nicht wunderbar! Wie soll man es anders nennen?"

„Ein Einschreiben", bemerkte Wenka, um Mißverständnissen auf alle Fälle vorzubeugen. „Hier müssen Sie Ihren Namen hinsetzen."

 „Mit meinem Blut werde ich unterschreiben", rief Lisunow. „Kinder, stellt euch vor. Mein Schwesterchen war gerade aus den Windeln raus, und eine Kälte war das. Im Thermometer gefror das Quecksilber. Es war noch Krieg. Der Zug fuhr ab. Meine Schwester kam nicht mit. Wo haben wir nicht hingeschrieben! An den Rundfunk, an die Zeitungen. Alles umsonst. Jetzt ist sie da. Die ,Komsomolka' hat sie gefunden."

Lisunow überstürzte sich, als säße er im Kino und sollte die Szenen eines vor seinen Augen abrollenden Films beschreiben.

„Das kostet eine Kleinigkeit", sagte jemand, der hinter Wenka stand.

Lisunow sah und hörte nichts mehr.

„Inzwischen hat sie sogar geheiratet", rief er, außer sich vor Freude. „Ganze vier Jahre alt war sie damals. Jetzt wohnt sie mit ihrem Mann bei uns in Murmansk. Ist das nicht ein Wunder?"

Er reichte Wenka ein Foto. Darauf sah man ein schlankes Mädchen in gestreiftem Kleid. Sie lehnte an einem Gemälde mit weißhäuptigen Bergen, die an Sektflaschen erinnerten. Ein Reiter sprengte durchs Gebirge, und eine „TU" flog darüber hinweg. Am Fuße der Berge wogte das Meer. Ein Ozeandampfer schaukelte auf den Wellen. Das Mädchen guckte ängstlich, als fürchte es, der Reiter könnte lebendig werden und den Säbel erheben.

Während Wenka noch die Fotografie betrachtete, trat der Abteilungsleiter aus dem Häuschen.

„Kommt, Genossen, es ist Zeit", sagte er. „Nanu, Lisunow, du bist ja heute so gut gelaunt?"

„Ich habe auch allen Grund. Meine kleine Schwester ist gefunden worden."

„Soso", meinte der Abteilungsleiter, „na, dann mußt du etwas springen lassen. — Hast du den Brief gebracht?" wandte er sich an Wenka.

„Jawohl."

„Tüchtig, tüchtig. Wie heißt du?"

Wenka runzelte die Stirn. Die nächsten Fragen würden lauten: Wie alt bist du? In welche Klasse gehst du? Wie sieht dein Zeugnis aus? Erstaunlich, wie sehr sich die Erwachsenen in ihrem Denken gleichen.

Der Abteilungsleiter machte eine Ausnahme. Er drang nicht weiter in Wenka, sondern sagte nur mit strenger Miene: „Das nächste Mal bin ich aber dran. Hast du gehört?"

„Wenn etwas dabei ist, bringe ich es mit." 

„Ich muß gleich ein Telegramm schicken", sprudelte Lisunow hervor, ergriff Wenka am Arm und dreht ihn zu sich herum. „Kannst du es aufgeben?" 

„Aber ja." 

„Diktiere, ich schreibe", schlug der Abteilungsleiter vor. Er zog ein Notizbuch aus der Kartentasche.

„Ja, vielleicht so: .Willkommen, mein liebes Schwesterchen. Punkt.'"

„Wozu Punkt?" fragte Wenka. „Einer kostet drei Kopeken."

„Trotzdem, mit Punkten ist es besser", entgegnete Lisunow in feierlichem Ton, „es gehört sich so."

Als das Telegramm diktiert war, drückte er Wenka drei Rubel in die Hand.

„So viel macht das nicht", erklärte Wenka. „Geben Sie mir einen Rubel, der reicht bestimmt. Wenn ich etwas rauskriege, bringe ich es Ihnen."

„Nein, nimm. Den Rest behältst du für Bonbons. Sollst deine Reise nicht umsonst gemacht haben." „Das geht nicht", erwiderte Wenka, „wir arbeiten ohne Bezahlung." „Was heißt wir?"

„Unsere ganze Klasse. Wir haben einen Beschluß gefaßt. Jeder leistet in den Ferien zehn gute Taten."

„Und wieviel hast du schon begangen?" wollte der Abteilungsleiter wissen.

„Das kann ich nicht sagen. Bei denen, die in der Stadt eingesetzt sind, zählen die Briefe. Sie haben bereits mehr als tausend ausgetragen. Dazu kommen noch Zeitungen. Sie haben ihre Verpflichtung längst erfüllt."

„Und wieviel Briefe sind bisher durch deine Hände gegangen?"

„Erst sechzehn."

„Nicht gerade eine Menge", gab der Abteilungsleiter zu. Er schielte Wenka von der Seite an. „Es ist nicht meine Schuld", erwiderte der.

„Komm her." Der Abteilungsleiter holte die Karte aus der Tasche und breitete sie auf einer Stufe aus.

„Zeig uns mal deine heutige Reiseroute. Ich möchte wissen, wo du überall gewesen bist."

„Zuerst im Staatlichen Fischkombinat."

Durch die blaue Fläche der Bucht zog der Bleistift eine Linie.

„Dann bist du zu uns gekommen?"

„Ja."

Eine zweite Linie kroch am Ufer entlang und endete auf einer Bergkuppe.

„Und anschließend geht's nach Hause?"

„Ja."

Eine dritte Linie durchschnitt die Bucht. Sie verband sich mit der ersten und zweiten.

„Das sind zweiundzwanzig bis dreiundzwanzig Kilometer", stellte der Abteilungsleiter fest. „Und wieviel Briefe hast du ausgetragen?"

„Zwei."

„Wie werden die berechnet? Als eine Tat, als eine halbe, als vier?"

„Das weiß ich nicht", gestand Wenka. „Das Postboot hat einen Motorschaden. Da bin ich eingesprungen."

Die Arbeiter lachten. Sechzehn Briefe, dachte Wenka, wie wenig das ist! Er bekam einen Schreck.

Im Herbst sollten sämtliche Schüler auf einer Versammlung über ihre Taten berichten. Wie würde er dastehen?

Wenka blickte Lisunow an. Der war wieder mit seinem Brief beschäftigt. Beim Lesen zog er beide Brauen in die Höhe und schüttelte fassungslos den Kopf. Das Lächeln wich nicht von seinem Gesicht.

Wenka seufzte, steckte den Dreirubelschein tiefer in die Tasche und wanderte den Hügel hinab. Er hatte die Hälfte des Weges zurückgelegt, als Lisunow rief: „Wenka, bleib gesund. Schönen Dank, Wenka!"

Auf dem Pfad, der ins Gebirge führte, standen sieben Menschen. Sie winkten. Die abgekühlte Abendsonne sank müde der Hügelkette entgegen. Die Berge nahmen ein tieferes Blau an. Von den Inseln krochen lange Schatten aufs Wasser. Doch hinter dem Boot lag wie vordem der glitzernde Diamantenpfad. Nur die von den Riemen hinterlassenen Strudel gähnten darin als schwarze Trichter.

Im Takt der Ruderschläge klang es über die still gewordene Bucht: „Zweitausendzweihundertfünf — zweitausendzweihundertsechs — zweitausend-zweihundertsieben..."