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Wie ein Kompaß funktioniert

Ende Mai trieb die letzte Eisscholle auf dem Fluß. Sie strahlte in blendendem Glanz wie der Frühling. Kerzengerade schoß das junge Gras empor. Die Zedern, die steinhart gefroren waren, tauten auf. Sogar das vom Treibeis niedergerissene Gesträuch am Ufer bekam junge Triebe und wurde wieder grün. Auf der Erde dampften die braunen Blätter des Vorjahres. In der Wärme rollten sie sich zu kleinen Röhren zusammen. Es dampften die silbrig bemoosten Stämme der Bäume, die herabgefallenen Nadeln. Die Luft war ein einziger wallender Brodem. Unter den Zweigen der Fichten standen die Sonnenstrahlenbündel wie bläuliche Säulen.

Im Winter hat die Taiga hundert Wege. Man geht, wo es einem gefällt. Wenn der Frühling kommt, liegt Windbruch im dichten Gras. Fallen lauern allerorts. Fußangeln, über die der Wanderer stolpert. Die Wiesen haben sich in Sümpfe verwandelt, die Lichtungen in Seen. Ein Marsch durch die Taiga ist reich an Hindernissen und beschwerlich.

Ein Junge kam aus dem Wald. Er stand auf einer sonnigen Lichtung, rückte mit einer Bewegung der Schultern den Rucksack zurecht und blickte kopfschüttelnd zurück. Unwillen spiegelte sich in seinem Gesicht. Er spie aus.

„Willst du dort übernachten?" rief er.

„Seeen-jaaa, ich kooo-me", ertönte es aus der Taiga zur Antwort.

Hinter einem Baum kam ein zweiter Junge hervor, gleichfalls mit einem Rucksack auf dem Rücken, schmächtig wie Senja, der auf ihn wartete, jedoch um einige Jahre jünger. Er kniete nieder, ließ sich auf die Hände fallen, schnaufte. 

„Heiß", ächzte er, lächelte aber.

„Mal ist es dir zu warm, mal frierst du. Wir könnten längst zu Hause sein."

„Man tut, was man kann", meinte der jüngere, ohne die unfreundliche Bemerkung des älteren übelzunehmen. „Aber ich bin kein D-Zug."

Er berauschte sich an dem Vergleich und wiederholte: „Kein D-Zug."

„Red nicht soviel", schimpfte sein Bruder Senja, „komm lieber."

„Ist das eine Hitze", sagte der andere und stöhnte, „zum Umkommen." Er streifte den Kragen seiner wattierten Jacke zurück und reckte den Hals.

„Bleib dort, bis du Wurzeln schlägst", sagte Senja und schritt weiter.

Sein Bruder riß sich die Mütze vom Kopf. „Dann machen wir es eben so", schrie er. „Besser?"

„Besser", knurrte Senja, ohne den Kopf zu wenden. — Sie wanderten bereits drei Stunden durch die Taiga. Im Rucksack schleppte jeder von ihnen acht Kilogramm Mehl. Die Last hatten sie gleichmäßig verteilt, aber ihre Kräfte waren unterschiedlich. Der jüngere wurde rasch müde und blieb wieder zurück.

Die Verkaufsstelle auf dem Baugelände, wohin sie von der Mutter nach Mehl geschickt worden waren, hatte zwei Sorten angeboten: weißes und schneeweißes. Sie hatten das schneeweiße genommen und ihr gesamtes Geld ausgegeben. Hin waren sie mit dem Dampfer gefahren. Zurück mußten sie durch die Taiga laufen.

Der Morgentau war noch nicht verdunstet. Aus jedem Tropfen strahlten kleine Sonnen. Dem jüngeren tat es leid, daß sie von den Grashalmen geschüttelt wurden und unter seinen Absätzen verschwanden.

Des langen Schweigens überdrüssig, meinte er: „Senja, hoffentlich geht alles gut. Mutter hat gesagt, wir sollen Mehl zu dreißig nehmen."

„Und wir haben fünfziger genommen, was ist dabei", erwiderte Senja.

Der jüngere hob den Rucksack an. Er rannte einige Schritte, um den Bruder einzuholen. Auf dem nassen Laub rutschte er aus und fiel hin. Der Rucksag schlug ihm in den Rücken. Eine weiße Wolke stob in die Luft. Die Erde sah aus wie gepudert. 

Der Junge lag still, drückte eine Gesichtshälfte ins Gras und beobachtete, wie die Mehlstäubchen sich auf die zitternden Tautropfen setzten, wie sie langsam dunkel wurden. Aufzustehen fehlte ihm die Kraft.

Erst als der Bruder umkehrte, sprang der Kleine hoch. Er guckte an sich herab und schüttelte die Blätter von der Jacke.

„Dich habe ich zum letztenmal mitgenommen. Verstanden?"

Der Kleine prüfte schweigend nach, ob die Schnur am Rucksack noch fest saß, und trottete weiter hinter dem Bruder her. Eine Zeitlang war nichts zu hören als das Rascheln des Laubes und das Knacken der Zweige, die unter den Schuhsohlen zerbrachen.

Allmählich glättete sich das Gesicht des jüngeren, die Sorgenfalten verschwanden. Ein Gedanke beschäftigte ihn. Er lächelte vor sich hin. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und fragte: „Senja, kannst du mir verraten, warum die Großen immer die Kleinen ausschimpfen? Weshalb ist das so? Sag mal."

Senja antwortete nicht.

Eine halbe Stunde später erklang es hinter seinem Rücken: „Seeen-jaaa, warte maaal!"

Senja blieb stehen. Er hörte das Geräusch eiliger Schritte und hastige Atemzüge. Obwohl der Bruder offensichtlich das Letzte hergab, empfand er beim Anblick des krebsrot angelaufenen Jungen, der mit den Füßen immer wieder in dem langen Gras hängenblieb, nichts als Zorn. Er war selber erschöpft, wollte sich aber nichts anmerken lassen. Um seine eigene Schwäche zu verbergen, tat er besonders barsch.

„Na los", knurrte er, „wird's bald! Oder bist du schon müde?"

„Du hast es gut', keuchte der jüngere, „mit deinen Stiefeln. Du kannst lachen. In meinen Schuhen quietscht schon das Wasser. Hörst du es?" Aus seiner Stimme klang kein Groll. Die älteren schreien und kommandieren herum. So ist es nun mal, damit muß man sich abfinden. Der Mensch gewöhnt sich an alles.

Senja warf einen Blick auf die nassen Schuhe des Bruders und betrachtete seine derben, gediegenen Lederstiefel. Zum erstenmal, seit sie die Baustelle verlassen hatten, wußte er nicht, was er sagen sollte.

„Schön", meinte er nach einigem Grübeln, „zieh die Dinger aus. Wir machen uns ein Lagerfeuer."

Wenige Minuten später saßen sie mit ausgestreckten Beinen vor den lodernden Flammen. Wieder suchte der Kleine eine Gelegenheit, mit dem Großen ins Gespräch zu kommen.

„Senja", piepste er, „zu Hause wirst du etwas abkriegen. Wenn du nach Tabak riechst, sagt Mutter bestimmt: ,Hauche mich an.' Machst du das?"

Senja, der an einer riesigen, ungeschickt gedrehten Zigarre lutschte, schüttelte unwillig den Kopf. Dabei verschluckte er sich am Rauch.

„Meinetwegen kannst du ruhig qualmen", fuhr der Kleine eifrig fort, „ich verrate nichts. Aber sie wird es selber merken. Senja, stimmt es, daß im Faulgrund die Mücken Lakschejews Kuh aufgefressen haben?"

„Hier gibt's auch genug von den Biestern", erwiderte Senja und stieß eine gewaltige Rauchwolke von sich, bemüht, genau in die Mitte des dichten Mücken-schwarms zu treffen. „Die Kuh haben sie völlig ausgesaugt. Nur die Hörner und das Fell sind übriggeblieben."

„Die Knochen nicht?"

„Doch, die wahrscheinlich auch. Allerdings hat sie keiner gesehen. Lakschejew selber ist nicht auf den Faulgrund gegangen. Er hat am Rand gestanden und rübergeguckt. Nun sagt er: ,In der Mitte liegen die Hörner.' Vielleicht waren es keine Hörner, sondern ein trockener Ast."

„Das ist.auch möglich", gab der Kleine zu. „Jedenfalls ist er seine Kuh los."

 „Auf den Faulgrund wagt sich jetzt keiner. Höchstens bei Sturm. Wenn es windstill ist, geht's einem wie Lakschejews Kuh. Es ist Mückenzeit."

„Ja, die Mücken schlüpfen jetzt aus", bestätigte der Kleine. „Würdest du dich hintrauen?"

„Ich schon, aber nicht mit dir", brauste Senja wütend auf. „Du lahmer Esel, du", fügte er giftig hinzu.

Der Kleine ließ nicht locker. „Aber allein", fragte er, „allein würdest du hingehn?"

„Nun halt endlich den Mund. Dein Gequassel regt mich auf", war die Antwort. Senja wollte nicht lügen, doch die Wahrheit zu gestehen, fehlte ihm der Mut. Der Juni ist Mückenmonat. Wenn man auf einen Fleck gerät, wo es schattig und feucht ist, steigt sofort ein dichtes, summendes Knäuel auf. So ist es in den Niederungen, im Sumpf, im Purpurweidengestrüpp am Fluß. Man kann sich ein Mückennetz über den Kopf stülpen, die Haut mit Salbe bestreichen, fast in die Flammen kriechen — es hat alles wenig Zweck. Unter den vielen Millionen Insekten, die einem um die Ohren schwirren, finden sich stets Tausende, die weder den beißenden Rauch, noch den Teergeruch der Salbe, noch die fuchtelnden Arme fürchten.