Im Faulgrund gibt es so viele Mücken, daß zu dieser Jahreszeit sogar die Elche einen Bogen darum machen.
„Nein, ich würde nicht hingehen", gestand der Kleine von sich aus, „nicht für Geld und gute Worte."
Senja wurde ärgerlich. „Vielleicht wollen wir hier übernachten?" fauchte er. Das Gesprächsthema war eindeutig nicht nach seinem Geschmack.
„Warte, gleich gehen wir", erwiderte der Kleine bereitwillig. „Die Schuhe sind von der Hitze ganz hart geworden, siehst du. Es ist schwer, reinzukommen. Aber schön warm sind sie", fügte er genießerisch hinzu, während sich seine Füße in die Schuhe zwängten, die unmittelbar neben dem Feuer gestanden hatten, „so müßten sie bleiben."
Senja streifte die Tragriemen des Rucksacks über die Arme, stand auf und ging wortlos weiter. Nach einigen Schritten knickte er ein.
Der Kleine freute sich. „Dich habe ich z
Als er sah, wie sich das Gesicht des Bruders jäh veränderte, verstummte er. Er lief hinzu, zog den am Boden Liegenden an der Schulter und flüsterte:
„Senja, was hast du?"
Senja stützte sich mit den Händen und richtete den Oberkörper auf. Von seinem Gesicht wich die Verwunderung. Schreck und Schmerz spiegelten sich in seinen Augen. Langsam sank er vornüber, klammerte sich am Gras fest, das er mitsamt den Wurzeln aus dem Boden riß und an sich zog.
„Senja", schrie der Kleine entsetzt, „Senja!"
„Das Bein", stöhnte Senja.
Er lag jetzt still. Nur die Hände schlossen und öffneten sich.
Als der Kleine die Stimme des Großen hörte, beruhigte er sich ein wenig.
„Klammere dich an", sagte er niederkniend und hielt dem Bruder eine Schulter hin.
„Geh fort", stieß Senja zwischen den Zähnen hervor.
Verzweifelt starrte der jüngere auf die hilflos vor ihm ausgestreckte Gestalt. Über die wirren Haare krabbelten Ameisen, geschäftig, als wäre nichts geschehen. Das Bein steckte in einem Bodenloch. Es war eigenartig zur Seite gekrümmt. Der Kleine merkte, daß etwas nicht stimmte, und rutschte dichter heran. Er fing an, das Gras herauszurupfen.
„Geh fort", stöhnte Senja, von unerträglichem Schmerz übermannt.
,,Gleich, Senja, ich grabe nur dein Bein frei. Wenn ich fertig bin, marschieren wir weiter." Mit den Fingernägeln wühlte der Kleine in dem von Wurzeln verfilzten Boden, der unter der Oberfläche trocken und fest war.
Als seine Hände an den Stiefel stießen, lief ein Zittern durch Senjas Körper, und er straffte sich.
„Wird es jetzt gehen?"
Senja wälzte sich auf den Rücken. Er versuchte, sich hinzusetzen. Jede Bewegung bereitete ihm unsagbare Schmerzen.
„Ich kann nicht." Er stöhnte qualvoll. „Geh allein. Ob du es schaffst, Sascha? Hole Hilfe."
„Versuch's doch noch einmal, Senja. Ich kenne den Weg nicht."
„Du Esel", schimpfte Senja. „Das Bein ist gebrochen." Dann wurde seine Stimme wieder ruhig. Mit vielen Pausen sagte er: „Ich habe — einen Kompaß — in der Tasche. Nimm ihn. Der Zeiger — hat eine rote Spitze. Siehst du?"
„Ja, hier."
„Lauf immer der Pfeilspitze nach, bis du an einen Fluß kommst. Dort schreist du laut um Hilfe. Auf der anderen Seite liegt Baikit. Nur mußt du immer auf die Richtung achten."
Die kleine Kapsel mit der zitternden Nadel lag auf Saschas ausgestreckter Hand.
Sascha hatte Angst.
Im Vergleich zu dieser winzigen, unruhig pendelnden Nadel war alles riesenhaft: der Himmel, die Taiga, die Stille.
„Lauf, Sascha", drängte Senja, „lauf. Du wirst es schon schaffen. Mußt dich nur nach der Kompaßnadel richten."
Sascha tapste durch die Schneise, warf furchtsame Blicke nach allen Seiten.
„Gib acht, daß du nicht abkommst", rief ihm Senja nach.
Die Bäume neigten sich zueinander. Lange hallten die stampfenden Schritte nach. Im Rücken raschelte und knisterte es pausenlos. Die Geräusche breiteten sich nach allen Seiten aus, trafen auf die Stämme, wurden gebrochen zurückgeworfen. Die Taiga dehnte sich in geheimnisvoller Größe. Doch plötzlich schien alles in Bewegung zu geraten, schien sich zu wenden, zu drehen und pfeifend auf den Jungen loszustürmen. Das angespannte Gehör fing jedes Lispeln auf. Sascha begann zu rennen. Er wollte fort, weit fort, um die Geräusche, die von allen Seiten an seine Ohren drangen, nicht mehr hören zu müssen. Ein einziges Mal hielt er inne, um einen Blick auf den Kompaß zu werfen. Er fühlte, daß die Schultern schmerzten. Die Traggurte schnitten ins Fleisch.
Plump flog der Rucksack gegen einen Baum. Dort war es trocken. Sascha lief weiter. Nach wenigen Schritten drehte er sich um. Sonnenlicht fiel durchs junge Laub, flutete von den bemoosten Hügelchen. In den hellen Strahlen war der Rucksack schwer zu erkennen. Den finde ich nachher nicht wieder, dachte Sascha, das schöne Mehl. Er rannte zurück und streifte die Gurte wieder über die Schultern.
Endlich rückten die Bäume weiter auseinander. Über sich erblickte Sascha den Himmel. Weiter vorn lichtete sich der Wald. An seinem Saum flimmerte die warme Luft. Dahinter dehnte sich ein mit Erdhügeln bedeckter gelber Grund. Der Junge wandte den Blick nach links, nach rechts und sah, soweit das Auge reichte, nichts als diese ausgedehnte Fläche. Auf dem fettigen Wasser, das zwischen den Hügeln stand, lag trüber, lebloser Sonnenschein. Unbeweglich ragten mit schweren, schlaff herabhängenden Blättern die langen Halme des Sumpfgrases aus den Pfützen. Sascha stand vor dem Faulgrund. Er wußte es sofort, obwohl er nie zuvor hier gewesen war. Er erkannte ihn an der bleigrauen Tönung des Wassers, an dem leisen Summen, das, wie es hieß, im Juni stets über dem morastigen Boden schwebte.
Die rote Spitze der Nadel wies direkt auf den Sumpf. Der Junge schüttelte den Kompaß. Unter dem Glas geriet die Nadel in Bewegung, tanzte schwankend nach links und rechts, bis sie in ihrer alten Lage erstarrte. Jetzt drehte Sascha das Gehäuse vorsichtig. Er hoffte noch immer, die rote Spitze aus der verhängnisvollen Richtung abzulenken. Vielleicht hatte sich die Nadel verklemmt. Wie sollte er, ein achtjähriger Junge, durch den Faulgrund laufen, wo die Hörner dieser blödsinnigen Kuh lagen? Aber sosehr er sich anstrengte — die Nadel ließ sich nicht überlisten, sie zeigte unentwegt in die gleiche Richtung. Sascha sah sich vor die Wahl gestellt, dem Kompaß zu folgen oder seinen Bruder Senja hilflos in der Taiga liegen zu lassen. Er entschied sich für das erste. Der Boden war weich, federte wie eine Matratze. Bis zu den Knien versank der Junge im Wasser. Neben den Beinen glucksten kleine, flüchtige Blasen an die Oberfläche. Der Sumpf seufzte, sog die Schuhe an sich und gab sie nur widerwillig frei. Jeder Schritt wurde zur Qual. Als der Boden endlich fester wurde, ging Sascha schneller. Unablässig vernahm er dieses leise Summen, das eintönig über dem Sumpf schwebte und von dem man nicht wußte, ob es aus den Wolken oder aus der Erde drang.
Dick wie Kartoffelschalen legte sich etwas um die Handgelenke. Das stach und schmerzte fürchterlich. Sascha wußte anfangs nicht, daß es Mücken waren. Sie saßen in dichten, dunklen Trauben, hingen auch an den Sachen und lechzten nach einem Stückchen bloßer Haut. Der Junge begann zu rennen. Eine graue Wolke schwebte über seinem Kopf, summend und unruhig durcheinanderwogend. Sie folgte ihm erbarmungslos auf Schritt und Tritt. Dann war der feste Streifen zu Ende. Die Beine versanken wieder im Morast. Der Körper hatte zuviel Schwung. Sascha fiel der Länge nach hin. Butterweich waren die Erdhäufchen unter ihm. Sie gaben bereitwillig nach. Etwas Kaltes heftete sich an die Fersen. Sascha riß und zerrte. Ringsum geriet der glucksende, breiige Boden ins Schwanken. Der Sumpf hatte ein Opfer gefunden und wollte es nicht wieder hergeben.