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Der Junge begann zu weinen. Er dachte an nichts mehr. Die Müdigkeit hatte ihn bezwungen. Er ließ sich umsinken. Tränen rannen ihm die Wangen herab.

In hungrigen Scharen fielen die Insekten über ihn her, lagen gleich einem dichtgewebten Tuch auf seinem Gesicht. Er spürte schon keinen Schmerz mehr, strich nur mechanisch mit der Hand über die Haut. Wie klebriger, kalter Brei fielen die zerquetschten Mücken ins Wasser. An ihre Stelle traten andere, stürzten sich gierig auf frei gewordene Stellen.

Sascha stemmte die Fäuste gegen den glitschigen Boden, der ihn widerstrebend, zentimeterweise losließ. Als die Füße aus dem Schlick gezogen waren, kroch er ein Stück auf allen vieren. Dann richtete er sich hoch. Die Traggurte schnitten in die Wattejacke, aber der Rucksack hatte sein Gewicht verloren. Er schien ein Teil der wassertriefenden, am Körper klebenden Kleidung geworden zu sein.

Der Junge öffnete die Fäuste. Grasbüschel fielen heraus. Der Kompaß war verschwunden.

Da kamen wieder die Tränen.

Sie trübten ihm die Sicht. Er rieb die Augen und durchwühlte auf dem Bauch den schlammigen Grund unter dem Wasser. Vor seinem Gesicht stiegen Blasen auf. Die Grashalme, die sich zu ihm herabneigten, erschienen ihm groß wie Bäume. Sie verdeckten den Horizont und die Sonne. Jetzt sah er, daß die Stengel an den Rändern schartig waren. Der Junge kam sich winzig klein vor. Er wünschte, eine Ameise zu sein, um an den Halmen hochkriechen zu können und das ekelhafte Wasser nicht mehr zu spüren.

Als er den Kompaß endlich gefunden hatte, kostete es Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Die Glasscheibe war von lehmigem Wasser bedeckt. Unverändert zeigte die rote Pfeilspitze in die gleiche Richtung.

Der Junge stapfte weiter, taumelnd, unsagbar müde. Wenn er über einen Erdhügel stolperte, spritzte der Morast.

Nach einer Weile hörte es unter den Schuhsohlen zu schmatzen auf. Ein dorniger Zweig streifte seine Wange. Es war angenehm, ein wohltuendes Kratzen auf der juckenden Haut. Er schritt durch biegsames Gestrüpp und merkte nicht, daß es die Sträucher am Ufer waren. Sein gedunsenes Gesicht mit der straffgespannten Haut glich einem Klumpen Hefeteig. Von den unzähligen Mückenstichen waren die Augen zugeschwollen. Er sah so gut wie nichts mehr.

Die sandige Stelle, auf die er sich setzte, befand sich in unmittelbarer Nähe des Flusses. Er hörte eine Sirene und das Rauschen von Wasser. Ein Raddampfer fuhr stromauf. Radiomusik klang herüber, das Stampfen der Maschine, Männerstimmen. Jedes Wort war deutlich zu vernehmen.

,,In Krasnojarsk nehmen wir ein Flugzeug", brummte selbstsicher ein Baß. „Von dort geht's weiter nach Sotschi. Palmen, eine Wassertemperatur von neunundzwanzig Grad, Mandarinen frisch vom Baum. Können Sie sich das vorstellen?"

Mit den Fingern schob der Junge die Lider hoch. Er sah den Dampfer. An der Reling standen zwei Männer und blickten sich an.

„Heee, Onkel!" rief Sascha.

„Nein, für Mandarinen ist es noch zu früh", erwiderte der andere, „die sind erst im Oktober reif."

„Heee, haaalt!" schrie der Junge und fuchtelte eifrig mit den Armen.

Diesmal hörten sie ihn. Die Männer drehten sich um. Einer winkte zurück. Zischend spritzte eine Welle ans Ufer. Bald war der Dampfer hinter einer Flußbiegung verschwunden.

Große Feuerbälle hüpften vor Saschas Augen. Alles, was er an diesem Tage erlebt hatte, war wie jahrealte Erinnerungen. Er spürte eine bleierne Schwere in den Gliedern, legte das Gesicht auf den feuchten Sand und dachte müde: Senja ist sicher schon tot. Senja ist tot, Senja ist tot, klopfte das Blut in den Schläfen. Als Sascha den Sinn dieser drei Worte völlig erfaßte, sprang er auf die Füße — das heißt, so schien es ihm: In Wahrheit rappelte er sich mühsam in die Höhe. Es bereitete ihm Mühe, die Jacke aufzuknöpfen und mit dem Rucksack zusammen nach hinten auf den Sand fallen zu lassen. Die Hose legte er über den Rucksack, in dem das Mehl feucht geworden war.

Als er sich ausgezogen hatte und ins Wasser tastete, kam ein mit durchnäßtem Heu beladenes Boot um die Sträucher gefahren. Die beiden Frauen, die darinsaßen, ruderten mühelos mit der Strömung. Verwundert sahen sie dem Jungen zu.

Er stand bis zum Gürtel im Wasser, beugte den Oberkörper nach vorn, plantschte, ging weiter. Dann begann er zu paddeln, ungelenk, mit den Bewegungen eines Kindes. Sein Kopf fuhr hin und her. Die rechte Hand war geöffnet, die linke zur Faust geballt.

„He, du Wasserratte, nicht so zapplig!" riefen die Frauen. Sascha hob das Gesicht. Die Frauen sahen, daß seine Augen zugeschwollen waren. Als sie ihn ins Boot gezogen hatten, öffnete sich seine linke Hand, und der einen Frau fiel ein schwarzer Kompaß aufs Knie.

Am Abend lag Senja bereits im Krankenhaus. Sascha erblickte erst zwei Tage später die Sonne wieder.

„Warum mußtest du auch durch den Sumpf waten?" fragten ihn die Leute. „Konntest du nicht herumgehen?"

Er erwiderte: „Senja hat gesagt, daß ich die Richtung nicht verlieren darf."

„Aber daß du schwimmen wolltest! Der Fluß ist dort einen Kilometer breit, stellenweise noch mehr. Wenn du nun ertrunken wärst?"

 Sascha runzelte unwillig die Stirn. „Senja hatte gesagt, daß ich die Richtung nicht verlieren darf", wiederholte er ungehalten. „Ich hatte einen Kompaß, und die Nadel zeigte immer geradeaus. Was kann ich dafür, daß ein Kompaß so funktioniert." 

Mein Freund Stjopka

Es war letzten Sonnabend in der Erdkundestunde, als Stjopka Chokkanen eine Vier bekam. Ich sage: Schuld daran war nur sein loses Mundwerk. Es heißt, die Finnen sind ein schweigsames Volk. Nun, Stjopka ist Finne, aber mit dem Mund immer voraus. Deswegen sind wir Freunde. Wunderbar, daß er nie um eine Antwort verlegen ist, selbst wenn er sie sich aus den Fingern saugen muß. Was Stjopka an mir gefällt, ist meine zurückhaltende Art. Wenn ich schweige oder nur zustimmend murmele, hat er freie Bahn. Dann kann man etwas erleben, denn wie gesagt: Auf den Mund gefallen ist er gerade nicht. Ich werde seit jeher für meine Bescheidenheit gelobt. Früher fand ich das schön. Im Laufe der Zeit entwickelte ich mich zu einem so bescheidenen Menschen, daß es mir selbst zuwider ist. Manchmal überkommt mich die Sehnsucht nach etwas anderem. Dann spinne ich eine Geschichte zurecht, freilich nur für mich. Nicht selten haben meine Gedanken Format und könnten es mit denen von Chokkanen aufnehmen. Aber in seiner Gegenwart leide ich unter Hemmungen. Daher bleibe ich meistens stumm wie ein Fisch. Was mir an meinem Freund noch gefällt, ist, daß er auf Bestellung fuchsteufelswild wird. Das ist eine ganz besondere Gabe. Wenn wir aus der Schule nach Hause gehen und unterwegs von den Kindern der Touristenstation belästigt werden, läuft er krebsrot an, auf seinem Hals schwillt die Ader. Dann fällt seine Büchertasche in den Schmutz, und mit geballten Fäusten geht er auf die Frechdachse los. Die nehmen schleunigst Reißaus, obwohl es eine Kleinigkeit wäre, Stjopka in diesem Zustand k. o. zu schlagen. Während er wie rasend mit den Armen fuchtelt, macht er nämlich die Augen zu.

Unsere Freundschaft begann rein zufällig. Wir waren benachbart und lernten uns kennen, das war unvermeidlich. Bald fanden wir Gefallen aneinander. Wir schworen Freundschaft fürs Leben, um Freud und Leid in Zukunft redlich miteinander zu teilen. Als Stjopka kurze Zeit danach sieben schmiedeeiserne Haken auftrieb, behielt er drei für sich, drei schenkte er mir, den letzten warf er in einen Brunnen. Darauf brauchten wir einen ganzen Tag, um den Haken mit Hilfe eines Magneten wieder aus dem Wasser zu fischen, damit er keinem in den Eimer geriet.

Als im Frühjahr Vaters Bekannter, ein Jäger, zu uns kam und bei der Abreise eine halbe Schachtel Patronen liegenließ, lief ich zu Stjopka. Er stibitzte von seinem Vater eine Flinte. Wir gingen ziemlich tief in den Wald, warfen abwechselnd unsere Mützen in die Luft und schossen danach. Stjopka erwies sich als der bessere Schütze. Er traf seine Mütze, ich verfehlte mein Ziel. Das war der Grund, weshalb er zu Hause eine Tracht Prügel bezog und ich nicht. Eine Woche lang sprach er kein Wort mit mir.