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Ich beneide ihn. Erstens schießt er besser als ich. Zweitens ist eine Tracht Prügel sehr schnell vergessen, und hinterher tut man den Eltern noch leid. Mich bemitleidet keiner. Wenn meine Eltern mich erziehen wollen, führen sie immer Beispiele aus ihrem tugendreichen Leben an. Sie müssen die reinsten Engel gewesen sein. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich ihre ewige Litanei anödet. Wenn sie mir eine Predigt halten, fange ich zu husten an, so raffiniert, daß den Trick niemand merkt. Aber das ist nur Wasser auf ihre Mühle. Gleich fallen sie über mich her: ,,Du mußt auch immer ohne Mütze rumlaufen. Da siehst du, wohin das führt. Die Schwindsucht wirst du dir noch holen. Wenn du endlich einsehen würdest, daß wir nur dein Bestes wollen."

Meine Meinung hierzu ist: Falls man einem Menschen wirklich gut will, sollte man nicht soviel Aufhebens machen, denn wenn jemand immer wieder dasselbe zu hören kriegt, gewöhnt er sich daran, und das ganze Geschrei ist für die Katz.

Einmal riß mir die Geduld, und ich platzte heraus: „Erstens nicht die Schwindsucht, sondern höchstens Tuberkulose, und zweitens wird Tbc heutzutage mit Penicillin geheilt. Das ist überhaupt kein Problem mehr."

Nun hatte ich mir erst recht den Mund verbrannt und mußte mir eine Stunde lang anhören, was für ein ungehobelter Klotz ich geworden, was eigentlich in mich gefahren sei, früher wäre ich doch die Bescheidenheit in Person gewesen und so weiter. Dieses Gerede über Bescheidenheit hing mir zum Halse raus. Es war das Schlimmste, was sie mir antun konnten. In meinen Augen ist Bescheidenheit ein viel ärgeres Übel als Tuberkulose.

Stjopka ist ein wahres Wunder an Unbescheidenheit. Er tut, was er sich in den Kopf setzt. Kürzlich hat er den Einfall gehabt, sich in Nina Poljanskaja zu verlieben, und es ist ihm gelungen. Die Klasse ist im Bilde, denn seither läßt Stjopka keine Pause verstreichen, ohne das Mädchen zu puffen und zu knuffen. Nina aber hat sich ihrerseits in Stjopka verliebt. „Chokkanen", schilt sie ihn aus, „du Esel, laß das sein." Im Grunde genommen hat sie jedoch gar nichts dagegen. Unsere ganze Klasse beneidet die beiden.

Letzten Sonnabend erwischte Stjopka eine Vier. Er wollte mir einreden, diese schlechte Zensur hätte er wegen der Poljanskaja einstecken müssen. Ich glaube das nicht, sondern bleibe dabei: Schuld hat sein loses Mundwerk.

Gekommen ist es so. Anna Naumowna fragte Stjopka nach der Beschaffenheit der Atmosphäre. Er erklärte, daß die Luft unten dicker und oben dünner sei. Die Namen der Luftschichten hatte er vergessen. Anna Naumowna stellte ihm Hilfsfragen. Stjopka wußte indessen, daß ihm nichts mehr einfallen würde. Da versuchte er wie gewöhnlich zu flunkern und der Lehrerin ein X für ein U vorzumachen.

Sie fragte nach den Luftschichten, er aber phantasierte: „Jawohl, Anna Naumowna, in der oberen Schicht ist das Atmen völlig unmöglich. Wie ich gelesen habe, flog neulich ein Adler zu hoch. Er verirrte sich in den luftarmen Raum und ist dort elend zugrunde gegangen."

Die Geschichte hatte er natürlich frei erfunden. „Chokkanen, hast du meine Frage verstanden?" wies ihn die Lehrerin zurecht. „Gib gefälligst eine exakte und deutliche Antwort. Also noch einmal. In welche Schichten gliedert sich die Erdatmosphäre? Nun? In die Tropo..."

„Jawohl, Anna Naumowna, wenn in einem Düsenflugzeug die Kabine platzt, wird der Pilot von einer Luftwelle erdrückt. Das ist es ja eben. Unten haben wir sehr dicke Luft."

Jetzt wurde Anna Naumowna böse. „Schäme dich, Chokkanen, diese wichtigen Dinge nicht zu beherrschen. Selbst wenn du im Lehrbuch nicht nachgelesen hast, mußt du doch wissen, worin sich heutzutage, im Zeitalter der Sputniks, jedes kleine Kind auskennt. Oder liest du etwa auch keine Zeitschriften?"

„Im Zeitalter der Sputniks" ist ein Lieblingsausdruck von Anna Naumowna. Als der erste Satellit gestartet wurde, kam sie, eine Zeitung schwenkend, in die Klasse gestürmt, las die ganze Stunde daraus vor und erklärte die Arbeitsweise der Geräte, mit denen der Satellit ausgerüstet war.

Unser Land hatte als erstes einen Sputnik gestartet, außerdem gab es in der Stunde keine Leistungskontrolle. Es war ein doppelter Grund zur Freude. Seit damals heißt es bei Anna Naumowna stets „im Zeitalter der Sputniks", sooft sie sich über uns ärgert.

Als Stjopka diesen gefürchteten Satz vernahm, wußte er, daß die Sache für ihn nicht besonders gut stand. Er machte sich auf eine Drei gefaßt. Zu allem Überfluß malte Poljanskaja eine Fratze mit einer lang herausgesteckten Zunge auf ihr Löschblatt und rückte verstohlen zur Seite, damit Stjopka es unmöglich übersehen konnte. Von jedem anderen Schüler hätte er diesen kleinen Ulk gelassen hingenommen. Daß aber Nina ihren Schabernack mit ihm trieb, brachte ihn auf. Vor Empörung wackelte er sogar mit den Ohren.

Da er nicht wußte, wie er dem Mädchen die Frechheit im Augenblick anders heimzahlen sollte, rächte er sich durch seine Antwort an die Lehrerin: „Doch, Anna Naumowna, Zeitschriften lese ich gern. Neulich stand in einem Artikel, an unserer Schule gibt es alle möglichen Arten von schwachsinnigen Künstlern."

Anna Naumowna errötete.

„Wie meinst du das, Chokkanen?"

Stjopka fürchtete, sie könnte die Bemerkung auf sich beziehen, und beeilte sich zu erklären: „Sie sind nicht gemeint, Anna Naumowna. Ehrenwort, an Sie habe ich nicht gedacht." Das machte alles noch schlimmer.

„Setz dich, Chokkanen. Für dein Wissen bekommst du eine Drei, für dein Verhalten eine Fünf. Im Mittel ergibt das die Note Vier. Nach dem Unterricht bleibst du hier. Ich habe mit dir zu reden."

Als die letzte Stunde um war, leistete ich ihm Gesellschaft. Wir warteten auf dem Flur, bis Anna Naumowna kam.

„Chokkanen", sagte sie, „weshalb kannst du deine Zunge nicht im Zaum halten? Wenn man dir eine Frage stellt, faselst du wer weiß was für ungereimtes Zeug. Was soll dieser Unsinn von Adlern, Piloten und Künstlern?"

„Na, wenn die immer..." „Wer ist ,die'?"

„Eben die. Sie waren nicht gemeint, Anna Naumowna, Ehrenwort."

„Deine Geheimnisse kannst du für dich behalten", entgegnete die Lehrerin. „Mir geht es nur darum, daß du dich zu einem klugen und gebildeten Menschen entwickelst. Morgen wirst du in die Schule kommen und so lange mit mir arbeiten, bis du das gesamte Wochenpensum beherrschst."

„Morgen ist Sonntag."

„Denkst du, mir macht es Spaß, mich auch noch an Feiertagen mit dir herumzuplagen, Chokkanen? Ich habe Familie, zwei Kinder, das weißt du selbst. Aber was sein muß, muß sein."

„Das ist wahr", gab Stjopka zu, „was sein muß, muß sein. Im Zeitalter der Sputniks gehen wir sogar sonntags in die Schule."

Ich stand neben ihm und ärgerte mich nicht minder als er. Für morgen hatten wir uns eine Tour nach dem Steinbruch vorgenommen. Wir wollten beim Granitsprengen zusehen. Daraus wurde nun nichts. Trotzdem hätte sich Stjopka den letzten Satz sparen sollen. Es war eine Unverschämtheit.

Anna Naumowna ging kopfschüttelnd davon.

„Die wird mich noch kennenlernen", sagte Stjopka.

„Gib nicht an, Stjopka. Was willst du denn machen."

„Ich meine nicht Anna Naumowna. Nina."

„In die bist du doch verliebt."

„Seit zwei Stunden hasse ich sie", knurrte Stjopka.

Auf unserem Heimweg grübelte ich immerfort darüber nach, wie ich ihm klarmachen konnte, daß es besser gewesen wäre, sich diese Bemerkung mit dem „Zeitalter der Sputniks" zu verkneifen. Stjopka aber hatte die Ungezogenheit bereits vergessen. Das ist bei ihm immer so. Unangenehmes vergißt er schnell und bildet sich ein, daß alle anderen auch nicht mehr daran denken.