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Sonntag morgen holte ich Stjopka ab. Es bestand für mich keine Notwendigkeit, mit in die Schule zu gehen. Da ich zu Hause jedoch nichts anzufangen wußte, begleitete ich ihn. Bis zu unserer Schule ist es nicht weit. Wenn man sich anstrengt, kann man es in fünf Minuten schaffen. Stjopka überredete mich jedoch, einen Umweg durch den Wald zu machen, am Marmorsee vorbei bis zur Bahnlinie, und von dort ist es nur ein Katzensprung. Zur Begründung seines Vorschlags führte er an, ein wenig frische Luft tue ihm gut, nach einem Spaziergang arbeite sein Kopf immer viel besser. Außerdem wolle er den gesamten Stoff noch einmal laut wiederholen.

Im Wald lag hoher Schnee. Als wir uns zu einem Pfad durcharbeiteten, drang er in die Filzstiefel. Natürlich dachte Stjopka nicht daran, auch nur einen Satz zu wiederholen. Er lief voraus und hatte weiter nichts im Kopf, als heimlich die Zweige zu schütteln, damit ich die Schneedusche abkriegte. Als ihm das zu langweilig wurde, jaulte er ein Lied, das er im Radio gehört hatte: „Der Ring mein's Feinsliebchens sank auf den Meeresgrund..."

Er kannte nur eine Zeile. Die wiederholte er mit unermüdlichem Eifer. „Feinsliebchen" hatte es ihm besonders angetan. Jedesmal, wenn er an diese Stelle gelangte, glitt ein Lächeln über sein Gesicht. Ich meinte, er sollte endlich ans Lernen denken, das könnte nicht schaden. Aber wenn Stjopka vom Feinsliebchen singt, ist mit ihm nichts anzufangen.

Später hob er die Nase in die Luft und staunte. „Ist die Atmosphäre aber blau! Wie kommt das eigentlich, Mischa?"

Am Marmorsee saß auf einer kleinen Halbinsel ein Angler. Jeden Sonntag kommen Leute aus der Stadt zu uns auf die Karelische Landzunge, um hier zu angeln, aber wir haben noch nie erlebt, daß jemand im Marmosee etwas gefangen hätte außer Krebsen.

„Beißen sie?" erkundigte sich Stjopka höhnisch.

Der Angler zeigte sich hocherfreut über die Frage. Wahrscheinlich ging ihm die Einsamkeit auf die Nerven.

„Und wie", erwiderte er, „vorhin war es ein Vergnügen." Er klopfte auf den Rucksack. „Drei Kilo werden schwerlich reichen, lauter kleine Dinger. Auf einmal klappt es nicht mehr. Es ist wie verhext."

Wir konnten uns das Lachen kaum verbeißen, denn im Marmorsee gibt es keinen Stichling, das wußten wir genau. Dazu ist das Wasser viel zu faulig. Stjopka meinte mit einem Blick auf den Rucksack, das sei kein Wunder, hier wimmle es ja bekanntlich nur so von Spiegelkarpfen.

Auf diese frohe Kunde antwortete der Mann mit einem Seufzer. „Nein, Karpfen habe ich noch nicht gefangen", flüsterte er, „nur Barsche."

Wir gingen weiter. Er blieb sitzen und harrte gespannt auf den ersten Spiegelkarpfen. Uns sollte es recht sein. Angler haben alle einen kleinen Vogel. Sie hocken von früh bis spät an der gleichen Stelle und warten verbissen auf ein Wunder. Die Hoffnung ist ihr großer Tröster.

Stjopka und meine Wenigkeit waren kaum zwischen den Bäumen untergetaucht, als wir einen Schuß hörten. Gleich darauf schrie jemand aus Leibeskräften: „Halte ihn, halte ihn, er entkommt!"

„Spaßvogel", sagte Stjopka. „Den soll ich wohl mit bloßen Händen fangen?" Er dachte, es wäre ein Hase.

Gleich darauf krachte es zu unserer Rechten im Unterholz. Ein Elch trat heraus, sah uns stehen und wendete sich zur Seite. Wir waren nicht weniger erschrocken als er. Seine Augen hatten wild gefunkelt. Offenbar war es ein böser Elch, oder er hatte einfach Angst.

Wenige Augenblicke später sprangen zwei Männer aus den Büschen, ihren umgeschlagenen Filzstiefeln und dem sonstigen Aufzug nach zu urteilen Sonntagsjäger. Sie erhoben ein Geschrei, daß man meinen konnte, sie hätten zu tief ins Glas geguckt. Mit leichten Sprüngen jagte der Elch durchs Gebüsch. Seine Beine schienen den Boden nicht zu berühren. Es sah aus, als schwebte er darüber hin.

Die Sonntagsjäger nahmen ihn zu gleicher Zeit aufs Korn. Hart knallten die Schüsse. Der Elch stürzte, setzte sich auf die Hinterbeine, wühlte die Schaufeln in den Schnee, der sich unter seinem Bauch rot färbte. Aber er atmete noch.

„Sergej Sergejewitsch", brüllten die beiden, die sich wie Betrunkene benahmen, „hierher! Er ist fertig."

Wir hörten, daß noch jemand durch die Büsche keuchte, und sahen, wie die Zweige auseinandergebogen wurden. Auch der dritte fluchte, als er auf die Lichtung trag.

„Wo ist er? Ach dort. Herrlich. Laßt sein. Ich gebe ihm selber den Gnadenschuß." Er setzte den Flintenkolben in die Schulter, zielte und zog beide Bügel durch. Der Elch richtete sich auf, warf den Kopf zurück, sank zusammen. Er lag still.

Dann sagte dieser Sergej Sergejewitsch: „Tretet näher. Ich werde euch verewigen." Die Sonntagsjäger gingen zu dem Elch und setzten ihm einen Fuß auf den Rücken. Die Flinten hielten sie so, als wollten sie einen Bajonettangriff unternehmen. Sergej Sergejewitsch zückte seinen Fotoapparat.

Als die beiden anderen aufgenommen waren, meinte er: „Jetzt bin ich dran."

Ich stand dabei und hatte schreckliches Mitleid mit dem toten Tier. Es tat mir leid wie ein Mensch. In unserer Gegend haben sich die Elche stark vermehrt, und zutraulich sind sie, kommen bis vor die Häuser.

Stjopka und ich haben im Geschäft Salz gekauft. Das mögen sie sehr.

„Komm", sagte Stjopka, er zupfte mich am Ärmel, „das sehen wir uns aus der Nähe an."

Dazu hatte ich keine Lust. Ich wollte den toten Elch nicht sehen. Stjopka drängte mich jedoch so lange, bis ich mitging. Wir wünschten einen guten Morgen.

„Guten Morgen, wenn ihr anständige Leute seid", entgegnete Sergej Sergejewitsch. „Wo brennt's denn?"

„Wir wollen uns den toten Elch ansehen", erklärte Stjopka.

„Nur ihr zwei?" fragte Sergej Sergejewitsch und schaute sich nach allen Seiten um. „Oder kommt noch jemand?" „Nein, wir sind allein."

Mein Blick fiel auf den Elch. Mein Mitleid wuchs noch. Seine Augen standen weit offen. Darin spiegelten sich die Bäume, der Himmel, ich. Nur war alles viel kleiner als in Wirklichkeit. Ich sah schnell wieder weg.

„Das wär's", brummte Sergej Sergejewitsch. „Jetzt habt ihr lange genug geglotzt. Schert euch weiter."

„Warum?" wunderte sich Stjopka. „Haben Sie den Wald gemietet?"

„Darüber brauche ich dir keine Rechenschaft abzulegen. Vorwärts, verpeste hier nicht die Atmosphäre."

Als Sergej Sergejewitsch das sagte, bekam Stjopka runde Augen.

„Seit wann haben Sie mir Vorschriften zu machen?" fragte er heiser.

„Verschwindet endlich", fauchte Sergej Sergejewitsch und sah sich unverwandt um, „sonst mache ich euch Beine." 

Stjopka trat ein paar Schritte zurück. Dann schrie er: „Sagen Sie mal, Sie, haben Sie eigentlich einen Jagdschein?"

Die drei Sonntagsjäger traten nervös von einem Bein aufs andere, und einer raunte: „Gehen wir erst mal, Sergej Sergejewitsch. Wir haben bis zum Abend Zeit."

„Zeigen Sie Ihren Jagdschein her, sonst hole ich meinen Vater!" schrie Stjopka.

Sergej Sergejewitsch stürzte sich auf ihn. Stjopka sprang zur Seite. Als er sich in Sicherheit gebracht hatte, schimpfte er weiter: „Aha, so ist das, ihr habt gar keine Jagderlaubnis. Na wartet, das sage ich meinem Vater."

Schließlich klemmten alle drei die Flinten unter den Arm und suchten das Weite. Nun war es sicher, daß sie keine Erlaubnis hatten. Wilddiebe waren sie, gemeine Spitzbuben, weiter nichts.

Stjopka kam ganz dicht heran und flüsterte mir ins Ohr: „Los, Mischa, hinterher."

„Wozu? Allein werden wir mit denen nicht fertig."

„Irgendwo müssen sie hingehen. Oder denkst du, sie übernachten im Wald? Wir rufen Leute und halten sie fest. Es sind doch Wilddiebe."

Die Spitzbuben traten auf den Pfad. Sie blickten sich nach uns um.

Stjopka lief etwa fünfzig Meter in die entgegengesetzte Richtung und brüllte aus Leibeskräften: „Das willkürliche Töten eines Elches wird mit Zwangsarbeit bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe in Höhe von fünfhundert Rubel geahndet." Stjopkas Vater ist Jäger. In seinem Haus hängen Tafeln mit den Jagdgesetzen. Stjopka kennt sie auswendig.