„Was denn noch?" fauchte der Junge.
„Wie heißt du?"
„Fedja."
„Kommst du aus der Siedlung?"
„Hmhm."
„Dein Vater?"
„Hab keinen."
„Und die Mutter?"
„Habe ich auch nicht. Lassen Sie mich los. Es tut weh."
„Läufst du fort? Nein? Ehrenwort?"
„Ehrenwort."
Der Flieger blieb stehen. Er nahm die Hand von der Schulter.
„Na also. Man muß aufrichtig sein. Das ist immer besser."
Der Junge stürzte auf den Zaun los, schwang sich hoch, rutschte mit dem Bauch über die Lattenspitzen und flog auf die andere Seite. Er rannte in Richtung zum Jenissej davon. Seine Schuhe traten eine Gasse durch die staubigen Kartoffelstauden.
Am Abend schritt Goga über das Rollfeld, wo die „Schawruschkas" standen. Vor einer Maschine machte er halt, stieß mit der Stiefelspitze gegen das eine Rad und murmelte halblaut: „Wie geht's, Alte? Keine Langeweüe so allein?"
Die „Schawruschka" hüllte sich in Schweigen. „Gibt's nichts Neues hier?" Das Flugzeug blieb stumm.
„Hast du vielleicht einen Menschen gesehen, der sein Wort gebrochen hat?"
Das Flugzeug schwieg. Der Mann legte lauschend die rechte Hand hinters Ohr.
„Nun?"
„Pfff", machte die Maschine, lange und laut.
„Na also", sagte der Flieger anerkennend. Er trat heran und warf die Haube zurück. In dem engen Gepäckraum lag ein Junge, zusammengerollt, das Gesicht rot vor Anstrengung. Über eine Minute hatte er den Atem angehalten.
„Hör mal, Fedja, warum läufst du fort und versteckst dich? Bist du ein Strauchdieb?"
„Selber einer", knurrte der Junge und heulte los.
Goga packte ihn und hob ihn aus der Maschine.
„Du täuschst mich nicht", sagte er streng. „Dein Wort hast du gebrochen. Vielleicht heulst du auch absichtlich."
Fedja wischte die Tränen vom Gesicht.
„Ich hab mein Wort nicht gebrochen", entgegnete er trotzig.
„Weshalb bis du fortgerannt?" Fedja wandte sich ab.
„Na gut", sagte der Flieger. „Komm mit. Zeige mir, wo du wohnst. Aber laß es dir nicht noch mal einfallen, auszurücken. Diesmal lauf ich hinterher."
Sie überquerten das Flugfeld und stießen auf die Straße, die in die Siedlung führte. Fedja ging in der Wegmitte. Er schlurfte und wirbelte Staub auf.
„Heb die Beine", sagte Goga. „Du bist ein Mensch und kein Tankwagen."
Fedja erwiderte nichts, aber er hob die Beine.
„In den Gepäckraum zu kriechen, war dumm", erklärte der Flieger. „Der wird vor jedem Start geöffnet. Man muß ja die Klemmen schließen. Leuchtet dir das nicht ein?"
Fedja rückte ein paar Zentimeter ab. Er fing wieder zu scharren an.
Der Flieger zog die Stirn in Falten.
„Wozu gebe ich mich eigentlich mit dir ab? Am besten, ich bringe dich zur Miliz."
„Bitte sehr", entgegnete Fedja laut und gereizt.
„Warum tun Sie's nicht?"
„Weil ich auch mal so war die du."
„Wie ich Strauchdieb, ja?" vergewisserte sich Fedja mit heller Stimme.
„Nicht Strauchdieb — Wirrkopf."
Schweigend schritten sie durch die Siedlung. Bald war das andere Ende erreicht.
„Wo wohnst du?"
„Sind schon vorbei."
„Warum hast du's mir nicht gezeigt?"
„Vergessen."
„Schön. Zurück." Der Flieger war die Ruhe selbst. „Streng dich an, damit du's nicht wieder vergißt." Zwanzig Minuten später standen sie abermals auf der Straße, die zum Flughafen führte. „Na?" fragte Goga.
„Wieder vergessen", erwiderte Fedja ohne Zögern. Sein Gesicht zeigte keine Spur von Verlegenheit und kein bißchen Angst. Es verriet nichts als Eigensinn. Der Flieger trat einen Schritt zurück. Der Junge hörte sein lautes Lachen.
„Du bist ein Dickkopf", sagte der Flieger, „aber mit mir hast du Pech, ich bin auch einer."
„Wissen Sie nicht, wo dieser Junge wohnt?" wandte er sich an eine vorübergehende Frau. Sie riß die Augen auf und starrte Fedja neugierig an.
„Allerdings weiß ich das. Hat wohl wieder was angestellt? Sehen Sie das grüne Dach dort drüben? Daneben ist es."
„Schönen Dank", sagte der Flieger.
Die Frau war sehr entgegenkommend. „Ich gehe lieber mit", erbot sie sich bereitwillig. „Was hat er angestellt?"
Der Flieger schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig. Ich finde den Weg jetzt allein. Schönen Dank nochmals."
„Aber es macht mir wirklich nichts aus", beteuerte die Frau, „die Zeit nehme ich mir. Ich begleite Sie bis zur Haustür. Der Schlingel hat den Flughafen unsicher gemacht, was?"
Goga schielte Fedja von der Seite an.
„Das kann man wohl sagen", entgegnete er mit ernster Miene. „Er hat ein Haus angezündet."
„Das ist ja ..." Die Frau stöhnte entsetzt.
„Allerdings", bestätigte der Flieger. „Ein Steingebäude. Stellen Sie sich vor, mit einem Streichholz."
Fedja wandte das Gesicht ab und prustete los. Der Flieger versetzte ihm einen leichten Schlag in den Rücken. Sie gingen los. In der Ferne schimmerte das grüne Dach.
„So ein Schwätzer", geiferte die Frau, „kann seine Zunge nicht im Zaum halten."
Die Tante saß auf dem Bettrand, beide Hände gegen die Schläfen gepreßt. „Ein Dieb", kreischte sie, „ein Dieb." Ihr Körper schwankte hin und her. „Der Sohn meiner Schwester entwickelt sich zu einem Dieb." Es klang beinahe wie Gesang.
Auf dem Tisch lagen zusammengerollte Geldscheine. Als die Tante verstummte, hörte man das Rascheln des Papiers, das geglättet wurde. Das langgezogene
„Iiii ..." schien sich zwischen den Maschen des Spinnengewebes in der Ecke verfangen zu haben und darin unentwegt weiterzuschwingen. „
Ich habe ihn gekleidet, ernährt. Großer Gott! Ihm ein Nest gegeben, in mein eigenes Haus genommen. Großer Gott!"
Der Flieger stand in der Tür. Er blickte unverwandt die Tante an.
„Hören Sie", sagte er endlich, „der Junge hat den ganzen Tag ohne Essen auf dem Flugplatz zugebracht."
„Und ich?" jammerte die Tante. „Habe ich vielleicht einen Bissen runtergekriegt? Wen kümmert das?" „Natürlich hast du heute morgen gefrühstückt", rief Fedja dazwischen. „Außerdem gehört das Geld nicht dir. Es ist für meinen Vater."
„Schweige doch, du Dieb", sagte die Tante, „du undankbarer Dieb!"
Fedja rannte aus dem Zimmer. Krachend flog hinter ihm die Tür ins Schloß.
„Hören Sie, so geht es doch auch nicht", ließ sich Goga vernehmen.
Die Tante funkelte ihn an. „Gehen Sie, Flieger. Ich habe Sie nicht hergebeten. Der Herr behüte Sie."
Dem Flieger wurde schwül. Er bückte sich, um nicht an den Balken zu stoßen, und schritt hinaus. Am liebsten hätte auch er die Tür zugeworfen.
Fedja stand auf dem Hof.
„Wohnst du schon lange hier?"
„Zwei Jahre drei Monate."
„Das ist nicht wenig", meinte der Flieger nachdenklich. „Komm, begleite mich ein Stück."
„Warum?"
„Darum. Wir müssen uns bekannt machen. Wenn du wieder zum Flughafen gehst, bist du nicht mehr fremd dort. Hast du Freunde?"
„Ja. Aber nur auf der Straße. Sie dürfen nicht ins Haus."
„Hm. Komm."
Fedja trat unschlüssig auf der Stelle.
„Aber mein Ehrenwort habe ich gar nicht gegeben", erklärte er. „Beim Sprechen hab ich Ihnen heimlich einen Vogel gezeigt."
„Warum?"
„Weil es dann nicht gilt."
Der Vater fiel 1945 bei einem Luftkampf über der tschechoslowakischen Stadt Bratislava, zwei Monate ehe der Junge geboren wurde. Vor zwei Jahren kehrte Fedjas Mutter, von Beruf Forstingenieur, aus der Taiga nicht zurück. Fedja blieb bei der Tante, die zwei Wochen lang um die verschollene Schwester trauerte und weinte. Ihre Tränen wurden stets von einem rührseligen Wortschwall begleitet.