Er erreichte, was er wollte. Kurze Zeit später kam ein Pilot.
„Hör zu, Freund", wurde er von Goga empfangen, „wann fliegst du nach Krasnojarsk?"
„Morgen."
„Und zurück?"
„Übermorgen."
„Bring einen Professor mit. Der Arzt wird dir erklären, was für einen."
„Er braucht keinen Professor", brauste der Arzt wütend auf. „Er braucht nichts als Ruhe."
„Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten." Goga sah den Arzt bittend an. „Aber ich habe keine Wahl. Der Junge muß leben."
„Schlafen Sie", schrie der Arzt, der endgültig die Fassung verlor, „schlafen Sie unverzüglich. Und Sie, Genosse, Sie gehen wieder nach Hause."
Der Herbst kam mit Graupel- und Hagelschauern. In Erwartung des ersten Frostes lagen am Fluß die Kutter auf Rollen. Mit der Schiffahrt ging es zu Ende.
Durch das Fenster drangen die tiefen Bässe der Dampfersirenen in Fedjas Zimmer. Das Krankenhaus stand auf einer Anhöhe unmittelbar über dem Hafen.
Fedja durfte schon aufstehen. Dreimal war die Tante gekommen, hatte weinend am Bett gesessen, den weißen Kittel ausgiebig mit Tränen benetzt und Fedja um Rat gefragt, wo sie am besten klagen sollte, beim hiesigen Gericht oder gleich in Moskau. Sie wollte von Goga Schmerzensgeld für die ihrem Neffen zugefügte Körperverletzung verlangen.
Auch einige Klassenkameraden kamen Fedja besuchen. Die viel zu großen weißen Kittel hingen komisch an ihnen herum. Die Kinder fühlten sich unbehaglich. Sie sprachen im Flüsterton und gingen bald wieder. Die Apfelsinen, die sie auf den Hocker gelegt hatten, dufteten herrlich nach Frühling. „Wenn ich gesund bin, fahre ich fort von hier", hatte Fedja beim Abschied gesagt.
Der Pilot brachte tatsächlich einen Spezialisten aus Krasnojarsk mit. Doch tobte der Professor nicht minder heftig als der Arzt des kleinen Krankenhauses. Es gäbe keinen Grund, in Panikstimmung zu verfallen, schrie er wütend und flog mit dem nächsten Flugzeug wieder ab, ohne für den nutzlosen Besuch eine Kopeke genommen zu haben.
An einem Oktobertag trat Goga ins Zimmer. Er sagte: „Heute reise ich. Mit dem letzten Dampfer."
Fedja hatte das erwartet. Trotzdem würgte etwas in der Brust. In seiner Kehle saß ein Kloß, der ihm fast die Luft abschnürte. Der Junge drehte sich zur Wand. Er kämpfte gegen die Tränen.
„Und ich?" stieß er endlich hervor. „Morgen werde ich entlassen."
„Ich habe unsere Abmachung nicht vergessen. Weißt du, Fedja, ich brauche ein Jahr Zeit, um wieder ein Mensch zu werden. Gegenwärtig traut mir keiner mehr, und die Leute haben recht."
„Das von den Gänsen habe ich nicht erzählt", flüsterte Fedja. „Sie waren hier, sie wollten mich aushorchen, aber ich habe nichts verraten."
„Darum geht es doch nicht. Glaubst du an einen Schwur? Ich schwöre, daß ich dich in einem Jahr holen werde. So lange brauche ich. Gegenwärtig ist niemand berechtigt, mir zu vertrauen, auch du nicht. Weißt du, ich bin aus dem Komsomol ausgeschlossen worden."
„Na und?" meinte Fedja. „Ich habe Flugverbot."
„Na und?"
„Sie haben mich in eine andere Abteilung versetzt. Ich kann unsern Jungs nicht mehr in die Augen sehen."
„Na und, na und?" fragte Fedja hartnäckig. „Wozu erzählst du mir das alles? Du willst mich nur nicht mitnehmen. Das ist auch gar nicht nötig."
„Aber Fedja, sei doch nicht so empfindlich." Goga packte ihn an den Schultern. Der Junge riß sich los. „Ich gebe dir mein Wort. In einem Jahr. Heute ist es zu früh. Im Augenblick weiß ich selber nicht, wie es mit mir weitergehen soll."
Goga erhob sich. Von der Tür aus murmelte er ein nichtssagendes Abschiedswort: „Sei ein Mann."
Fedja wollte kein Mann sein. Er stand am Fenster und sah zu, wie Goga mit seinem Koffer zum Hafen ging. Unter den wuchtigen Schritten schwankte die Landungsbrücke. Ehe Goga den Dampfer betrat, blieb er stehen und drehte sich um. Wie elektrisiert fuhr Fedja zurück.
Ein langgezogenes Heulen brachte die Fensterscheibe zum Klirren. Fedja spürte es an dem Zittern auf der Stirn. Hafenarbeiter rollten eilig die letzten Fässer heran.
Ein zweites Signal zerriß die Luft und ertrank in dem grauen, dichten Nebel, der auf den Fluß sank.
Ein Matrose schritt über die Planken, machte gemächlich das Tauende los.
Fedja stieß das Fenster auf und kletterte hinaus. Wie er war, in seiner grauen Krankenhaushose und dem weißen Kittel, rannte er die Anhöhe hinab. Als die Sirene zum drittenmal heulte, stand er bereits auf dem Dampfer, sprang über mehrere Körbe hinweg und erblickte Gogas nassen Wettermantel.
„Ich wollte dir nur sagen ...", begann Fedja.
Die Maschine stampfte. Langsam entfernte sich das Schiff von der Landungsbrücke.
„Laß nur", begrüßte ihn Goga froh, „ich wollte dir auch sagen ... Verstehst du, Fedja? Beim ersten Anlegen kaufen wir was zum Anziehen für dich."
Die Netze
Das Haus stand am Jenissej, unmittelbar vor dem hohen, steüen Ufer.
Unten legten die Schiffe an.
Im Frühjahr sah man dort die ersten Dampfer. Und die letzten Eisschollen. Wenn sie tosend und berstend gegen die Landungsstelle stießen, klang es wie eine Drohung: Wumm! Standgehalten?
Standgehalten! wummerte das Ufer als Echo zurück.
Das schief gewordene Haus klammerte sich verzweifelt an den Boden. Jahraus, jahrein brandeten die Wellen gegen das Ufer, unterhöhlten es. Brocken auf Brocken stürzte ins Wasser. Unaufhaltsam kroch der Hang auf das Häuschen zu. Schon klafften Risse zwischen den Balken. Moosbatzen hingen heraus, weiß, wie gargekocht. In weiten Wellen krümmte sich das grünschimmlige Dach. Schief war das Haus, gebrechlich, aber es stand.
Es stand...
Heute schreibt mir der Vater, es sei eingestürzt. Während ich den Brief in meinen Händen halte, tauchen Bilder auf, Erinnerungen: Stepan, er schüttelt die Faust, droht Sjowka und mir.
Jetzt erst weiß ich, daß wir endgültig gesiegt haben. Niemand vermochte zu sagen, woher er gekommen war, dieser Stepan Shuikow. Eines Tages stand er da und kaufte das alte Haus. Er bekam es fast geschenkt. Wer wollte schon darin wohnen. Über kurz oder lang mußte es zusammenbrechen. Stepan hatte es genommen. Bald besaß er ein Boot. Es sprach sich herum, daß er schwarz fischte. Sein Gerät bezog er wie die Mitglieder der Fischereigenossenschaft aus dem Kaufhaus.
Wenn wir in die Schule gingen, begegneten wir gewöhnlich seinem Lastwagen, einem robusten „SIL". Vom Holzwerk bis zum Lager am Jenissej sind es achthundert Meter. Mit Bohlen beladen hin, leer zurück, zwanzigmal am Tage, das macht müde.
Um sieben Uhr abends aber fand man ihn todsicher in seinem Boot. Er ruderte stets die gleiche Strecke, quer über den Fluß. Was er am andern Ufer trieb? Wer wußte das zu sagen? Der Jenissej ist breit und groß. Und verschwiegen. Vermutungen gab es viele, Gerüchte: Er ist ein Fischdieb.
Mein Vater Wollte sich die Haare raufen, wenn er daran dachte, daß er diesem Kerl die Zuzugsgenehmigung erteilt hatte. Jedoch wer konnte damals, als Stepan das wacklige Häuschen kaufte, ahnen, was wir später erfuhren?
Unsere Fischer hatten auf den Zugereisten einen heiligen Zorn. Sie beschlossen, ihm aufzulauern, der Sache auf den Grund zu gehen, ihn zu überführen. Es blieb bei dem Entschluß. Der gute Wille war vorhanden. Was fehlte, war Zeit, die hatten unsere Leute nicht.
Nur die Fischereikontrolle blieb hart. Für sie ging es ums Prinzip: Wer wen. Die Kollegen von der Fischereikontrolle rupften mit Stepan ein Hühnchen. Oder war es umgekehrt? Jedenfalls leisteten sie sich ein Ding, über das die Menschen am Jenissej eine Woche lang lachten.
Vom frühen Abend an lagen sie bei der Klosterinsel auf der Lauer. Zu ihrer Verfügung hatten sie ein Gleitboot. Gegen fünf Uhr morgens sichteten sie Stepan. Er ruderte heimwärts, gemächlich, allein. Sie waren zu dritt, mit achtzig PS auf dem Kasten. Er besaß zwei Ruder und seine Muskeln. Aber sein Boot war schmal, schnittig, schob eine schöne Bugwelle vor sich her, auch wenn es nur langsam über das Wasser glitt.