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Da vom Jenissej ein kalter Wind landeinwärts strich, war es mit den Mücken nicht so schlimm. Wir suchten den alten Pfad und fanden ihn nicht. Nach langem fruchtlosem Umherirren stießen wir auf die vertraute Wiese und sahen sofort, daß wieder Netze aufgespannt waren. Funkelnagelneue Netze! Ich traute meinen Augen kaum. Hatte Stepan wirklich nicht mit uns gerechnet? 

Sjowka zerbrach sich hierüber nicht den Kopf. „Da hast du eine Klinge", sagte er.

Die Wiese kam mir verändert vor.

Dort stand die Laubhütte, und da war auch die Birke, an der Stepan das Gewehr zerschmettert hatte, aber jetzt lag sie auf der Erde, die Wurzeln in die Luft gereckt, und daneben...

Daneben hockte Stepan. 

Er stützte sich mit den Händen auf, blickte uns groß an. Seine Beine waren verdreht. 

Da fiel mir ein, daß sein „SIL" heute nicht durchs Dorf gefahren war. Ich wich zurück.

„Jungs", flehte er, „kommt her, Jungs, ich tue euch nichts."

Wir traten näher und begriffen, was geschehen war. Die stürzende Büke hatte ihm beide Beine zerschmettert. Stepan war ein kräftiger Mensch. Er hatte den schweren Stamm beiseite geschoben, aber gehen konnte er nicht.

In dieser Minute tat er mir leid. Ich verzieh ihm alles. Auf Sjowkas Gesicht las ich kein Mitleid. Dennoch war er der erste, der Stepan unter die Arme griff. Einen schweren Mann durchs Dickicht zu schleifen ist keine Kleinigkeit. Die Weidemuten waren biegsam wie Stahlfedern. Sie schlugen uns ins Gesicht und Stepan um die Beine. Kein Laut kam über seine Lippen. Er schloß nur bisweilen die Augen und knirschte mit den Zähnen.

Wir legten ihn in unser Boot. Seinen Kahn, den wir vorhin nicht bemerkt hatten, band Sjowka am Heck fest. Wir sahen die nasse, von Haken gespickte Schnur und einen blutigen Sterlet, der den Innenraum des Bootes zur Hälfte ausfüllte.

Lange Zeit lag Stepan unbeweglich. Wir dachten, er sei bewußtlos geworden. Als wir die Flußmitte erreicht hatten, schlug er die Augen auf.

„Sjowka", sagte er, „hör zu, Sjowka, wirf die Leine ins Wasser."

Sjowka tat, als hätte er nichts gehört. Er ruderte weiter.

„Sjowka, dafür komme ich ins Gefängnis. Hörst du, sobald ich kuriert bin, sperren sie mich ein." 

Sjowka stellte sich taub. 

„Kinder, bei mir im Zimmer findet ihr Geld. Unter dem Fensterbrett. Das Geld für die Fische, die ich verkauft habe. Nehmt es euch. Ich brauche es nicht. Hier ist der Schlüssel."

Stepan versuchte, sich auf die Seite zu wälzen, um an die Gesäßtasche zu kommen. Es gelang ihm nicht.

Sein Kopf lag hilflos an der Bootswand. Er blickte uns an. In dem Gesicht zuckte kein Muskel.

„Boris", ordnete Sjowka an, „wenn wir drüben sind, läufst du zur Miliz. Ich gebe auf ihn acht."

„Auf wen willst du achtgeben? Auf mich? Ich rücke nicht aus. Wirf die Leine ins Wasser, Sjowka. Ich kaufe dir ein Gewehr, ein gutes wie das alte, das ich zerbrochen habe."

„Nein", sagte Sjowka. 

„Du hast meine Netze zerschnitten." 

„Allerdings", erwiderte Sjowka.

„Also sind wir quitt, mehr als das. Und daß ich dich geschlagen habe, tut mir leid. Entschuldige."

Sjowka senkte das Kinn auf die Brust. Er ruderte schneller. Das Ufer war schon nahe. Stepan stemmte die Hände gegen den Boden des Bootes.

Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und sagte: 

„Daß du so sein kannst, hätte ich nicht gedacht. Ich bin verwundet, vielleicht ein Invalide, hilflos, und du willst mich verraten."

Sjowka lief rot an, ließ die Ruder fahren. 

„Wer hat heimlich gefischt?" rief er. „Wir? Ich bin ein Verräter?"

Er zog Stepans Boot heran und kippte es um. Die Leine fiel klatschend ins Wasser, sank auf den Grund. Der blutende Sterlet, der noch lebte, glitt zappelnd hinterher. Er bewegte matt die Flossen und versuchte, Tiefe zu gewinnen.

„Du bist ein Verräter!" schrie Sjowka. „Du!"

Wir stießen ans Ufer.

Sjowka sprang aus dem Boot und ging ohne sich umzublicken davon. 

Stepan verließ unser Dorf an dem Tage, als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde. 

Vor mir liegt der Brief meines Vaters. Ich stecke ihn ein und laufe auf die Straße. Von einer Telefonzelle aus rufe ich an. Es dauert lange, bis ich den Kommandanten so weit habe, daß er bereit ist, Sjowka aus Zimmer neununddreißig, das im dritten Stock liegt, herunterrufen zu lassen.

„Sjowka!" schreie ich in den Hörer. „Hurra,

Sjowka, das Haus ist eingestürzt!"

„Bist du schwachsinnig geworden?" fragte Sjowka.

„Oder hast du schon Examen gemacht?"

„Weder noch. Ich möchte nur nach Hause fahren. Kommst du mit?" 

„Im Sommer können wir darüber reden", erwiderte Sjowka.

„Dann laß dich wenigstens mal sehen. Ich habe einen interessanten Brief."

„Komm du lieber", schlägt Sjowka vor, „bei mir geht es schlecht."

Ich hänge den Hörer auf den Haken und renne zur nächsten Haltestelle der Straßenbahn. 

Ein Scherz

Als ich die Klasse betrat, saßen nur wenige Schüler auf ihren Plätzen. Die meisten drängten sich um Kostja Radushny, der in einer Ecke stand und etwas erzählte. Ich wartete an der Tür, und sie zerstreuten sich lachend. Sie zerstreuten sich, das sagt sich leicht her. In Wahrheit war es so: Sie liefen durch die Klasse, versperrten einander den Weg, kletterten über die Bänke und waren redlich darauf bedacht, soviel Lärm wie möglich zu machen. In dem schmalen Gang neben den Fenstern organisierten sie ein „Gedränge" wie beim Rugby. Sie schoben und schubsten sich. Nach außen hin wünschte jeder nichts sehnlicher, als so schnell wie möglich auf seinen Platz zu kommen.

Ich wartete, kannte ja meine Schüler. Die ersten zehn Minuten nach den Ferien gehörten ihnen, da war Narrenfreiheit — nach einem ungeschriebenen Gesetz.

Meine Klasse legte Wert darauf, ihren Kopf durchzusetzen. Warum nicht. Ich hatte mir längst abgewöhnt, den unnachgiebigen Prinzipienreiter zu spielen, dem eine Perle aus der Krone fällt, wenn er einmal zehn Minuten verschenkt. Als es soweit war, kamen sie von selbst zur Ruhe.

„Guten Morgen, 6a", grüßte ich. „Guten Morgen, Juri Wassiljewitsch", erwiderte ein Schüler,

„Juri Wassiljewitsch, guten Morgen", ein zweiter, „schönen guten Morgen", ein dritter. Nach langem Durcheinander piepste auf der letzten Bank ein dünnes, aber deutliches Stimmchen: „Juri, guten Morgen, Wassiljewitsch."

Das war meine Klasse. Kein bißchen verändert hatte sie sich während der letzten zwei Wochen. Am ersten Tag nach den Ferien närrisch zu grüßen war !hre eigene Erfindung. Sie bildete sich tüchtig was darauf ein.

Ich begann. „Nun, die Ferien sind zu Ende." 

„Die Ferien sind zu Ende", bestätigte Kost ja Radushny mit Grabesstimme. 

„Ach ja", jemand auf der ersten Bank seufzte, „zu Ende." 

„Restlos zu Ende", erklang es aus einer Ecke.

„Zu Ende, zu Ende."

Während sie sprachen, sahen sie mich mit vor Wonne funkelnden Augen an. Keiner versuchte, sich hinter dem Rücken seines Vordermanns zu verstecken. Die Klasse freute sich, daß es nach ihrem Kopf ging. „Schön", sagte ich, „und nun nehmt eure neuen Rechenhefte vor. Wir beginnen heute mit Algebra."

An den Büchertaschen rasselten die Verschlüsse, die Bankdeckel klapperten. Danach wurde es still. Zehn Minuten waren um.

„Bisher hatten wir es stets nur mit Zahlen zu tun. Wenn wir addieren wollten, verfuhren wir folgendermaßen."

Ich ging an die Tafel und schrieb: 2 + 3 = 5.

„Jetzt stellt euch einmal vor, unsere Additionsaufgabe hieße nicht 2 + 3, sondern meinetwegen 6 + 8 oder 4 + 5 oder sonstwie, und ich sollte an Stelle der Zahlen eine für alle diese Aufgaben gültige Formel einsetzen. Wie würde ich verfahren? Nun, ich könnte zum Beispiel statt der Ziffern Buchstaben verwenden."