Ich schrieb:
2 ersetzen wir durch a
3 ersetzen wir durch b
Also: 2 + 3 = 5 oder a + b = c.
Die Schüler beugten sich über ihre Hefte. Nur Kostja nicht. Er galt als größter Witzbold der Klasse und hielt sehr auf seinen Ruf.
Er meldete sich. „Juri Wassiljewitsch, etwas verstehe ich nicht. Wenn Sie schreiben a + b, muß auf der rechten Seite doch ein anderer Buchstabe auftauchen."
Ich sah ihn an. „Nämlich welcher?" Noch hoffte ich, er würde den Mund halten und den Erfolg der Stunde nicht gefährden. Aber wenn es darum geht, die Klasse zum Lachen zu bringen, kennt Kostja kein Erbarmen.
„Ein L", platzte er heraus. Sein Zeigefinger wies auf Anja Melnikowa und Boris Jewremow.
In dem nun einsetzenden Gelächter drohte das letzte Interesse an der algebraischen Wissenschaft unterzugehen. Einer trampelte vor Vergnügen. Anja Melnikowa bekam einen roten Kopf, Boris Jewremow drehte sich zum Fenster um und starrte unverwandt auf das einförmige Weiß der zugefrorenen Bucht. Er tat völlig unbeteiligt, aber ich konnte sehen, wie er langsam und unauffällig von Anja abrückte.
Etwas mußte geschehen. „Radushny", sagte ich, „verlaß die Klasse."
Am nächsten Tag kam seine Mutter. Sie nestelte an dem Rand ihres Tuches und murmelte mit müder Stimme die üblichen Entschuldigungen. Ich stand erst in meinem zweiten Dienstjahr. Es war mir sehr peinlich, von einer immerhin etwas betagten Dame wegen der Verfehlung ihres Sohnes um Verzeihung gebeten zu werden. Als sie wieder ging, war ich heilfroh.
Zwei Tage saß Radushny wie ein Mäuschen. Der Vorfall in der Algebrastunde war bereits vergessen. Am Wochenende rief ich Anja an die Tafel. „Wir haben in unserer ersten Algebrastunde eine Gleichung kennengelernt. Schreib sie an."
Anja nahm ein Stück Kreide und begann sehr richtig:
a + b = ...
An dieser Stelle zögerte ihre Hand, eine Sekunde nur, aber das entschied alles.
„L!" flüsterte ihr jemand zu.
„Wer war das?"
„Ich." Radushny fuhr in die Höhe. „Entschuldigen Sie, Juri Wassiljewitsch. Sie haben ja selber gesagt, daß ich mit der Zunge meinen Gedanken voraus bin. Es ist mir nur so herausgerutscht."
Ich musterte ihn. Er sprach die Wahrheit, es war ihm „nur so herausgerutscht".
„Vor mir brauchst du dich nicht zu entschuldigen."
„Natürlich, Juri Wassiljewitsch", erwiderte Kostja salbungsvoll, „ich verstehe." Er blickte Anja an und sagte höflich, allzu höflich: „Anja, entschuldige bitte. Du auch, Boris. Entschuldigt alle beide."
Kostja seufzte und machte ein gequältes Gesicht. Er litt, er triefte vor Reue. In seiner Stimme schwang so viel Zärtlichkeit, daß die 6a entzückt aufheulte.
Anja legte die Kreide in den Kasten und schlich mit gesenktem Blick auf ihren Platz. Sie begnügte sich mit der äußersten Kante der Bank, als hätte sie Angst, Boris könnte beißen. Boris wurde rot. Er ballte die Fäuste. Ich fürchtete, er werde gleich auf Radushny losschlagen.
Unsere 6a, die einhelligste Klasse der Schule, wenn es darum ging, Lärm zu machen, hatte noch nicht gelernt, kameradschaftlich zu sein. Sie war vergnügt und lachte. Alles andere hatte keine Bedeutung. Was in Boris Jewremow vorging, merkte keiner. Die Sache mit der Gleichung mußte auf dem schnellsten Wege aus der Welt geschafft werden, ehe es zu spät war.
„Hört zu, Freunde", sagte ich, als sich das Gelächter etwas gelegt hatte, „wie ihr euch gegenüber Anja und Boris verhaltet, ist übel."
Ich hielt eine Rede, eine schwungvolle Rede, und führte aus, daß man auf Gemeinheit mit Gemeinheit antworten kann, auf einen Schlag mit einem Gegenschlag. Was aber soll der tun, über den sich die anderen lustig machen? Wenn mir jemand in Wort oder Tat zu nahe tritt, werde ich mich wehren. Dem Gelächter ist man schutzlos preisgegeben.
Ausgiebig und eindringlich führte ich ihnen das Verwerfliche ihres Tuns vor Augen. Ich war begeistert von meiner Rede, insbesondere darum, weil es mir gelang, die richtigen Worte zu finden. Meine Schüler hörten mir aufmerksam zu. Als ich geendet hatte und fragte: „Ist das jetzt klar?" erscholl es im Chor: „Jaaa."
An diesem Tage konnte mir nichts meine ausgezeichnete Laune verderben.
Als ich am nächsten Morgen in die Klasse trat, hatte jemand auf den Tafelrand geschmiert: A + B = Liebe. Ich sah es sofort.
Mein Blick huschte über lauter Unschuldsmienen. Die Schüler saßen wie Engel, mit gefalteten Händen und aufmerksamen, ehrlichen, ernsten Augen, das aufgeschlagene Heft und ein Löschblatt vor sich auf der Bank. Die Schmiererei am Tafelrand hatte natürlich niemand gesehen. Sie waren ja hier, um zu lernen, ausschließlich um zu lernen.
Daß meine gestrige Rede auf unfruchtbaren Boden gefallen war, stimmte mich zornig. Ich war drauf und dran, eine strenge Untersuchung der Angelegenheit in die Wege zu leiten, kam aber, während ich das Klassenbuch aufschlug, zu der Einsicht, daß dies wohl doch nicht die richtige Methode sei. Meine Worte hatten das Gegenteil von dem bewirkt, was sie erreichen sollten, und die Aufmerksamkeit der Klasse erst recht auf diese törichte Gleichung gelenkt. Ich zog es vor, mit Stillschweigen über die Sache hinwegzugehen und mich auf eine sachliche Feststellung zu beschränken: „Ordnungsdienst, die Tafel ist nicht gewischt."
Ein Seufzer der Enttäuschung lief durch die Klasse. Schade...
In der Pause kam Boris zu mir.
„Juri Wassiljewitsch, darf ich mich auf einen anderen Platz setzen?"
Ich war der Klassenleiter und hätte fragen müssen: Weshalb? Aber die Geschichte hing mir nachgerade zum Halse heraus. Ich war es überdrüssig zu tun, als wüßte ich nicht, was gespielt wurde.
So sagte ich nur: „Gut, zieh um."
„Danke", murmelte Boris, ohne mich anzusehen, und ging fort.
Während der großen Pause kam Kolja Bokow ins Lehrerzimmer.
Er bat mich in eine Ecke, wo wir nicht gehört werden konnten, und flüsterte:
„Juri Wassiljewitsch, was die Klasse macht, ist nicht richtig. Ich meine a + b."
„Es ist abscheulich. Du kannst den anderen bestellen, falls sich das noch einmal wiederholt..."
„Natürlich", flüsterte Kolja, „was geht es uns an, wenn sich zwei verlieben."
Er beobachtete mich, um zu sehen, welchen Eindruck seine Worte machten.
„Gut. Und was willst du hier?"
„Es gehört sich nicht für einen Pionier", erwiderte Kolja.
Ein merkwürdiger Bursche, dieser Bokow, ordentlich, sauber, bescheiden, aber er liebte es, gewichtige Worte in den Mund zu nehmen. Das hatte ich schon mehrmals feststellen können. Ich wußte auch, daß er Radushny heimlich haßte. Vergangenes Jahr hatten beide lange gewetteifert, wer wohl der witzigere sei. Die anderen mochten Koljas Späße nicht sonderlich. Sie waren ihnen zu gesucht, zu offensichtlich gewollt. Radushny kam auf den ersten Platz.
Ich überlegte: Worauf will er nur hinaus? „Du hast ganz recht", erwiderte ich, „es gehört sich nicht für einen Pionier. Nur verstehe ich nicht, weshalb du mit mir darüber sprichst. Das mußt du demjenigen sagen, der solchen Unfug an die Tafel schreibt. Weißt du, wer es war?" Bokow wurde rot.
„Nun — eigentlich — das heißt ...", stotterte er. „War es Radushny?"
„Nun — eigentlich — habe ich es nicht selber gesehen."
Er ließ den Kopf hängen und fingerte an der Gürtelschnalle. Sein ganzes Gebaren deutete darauf hin, daß ich ins Schwarze getroffen hatte.
Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn du es nicht gesehen hast, brauchen wir kein Wort mehr darüber zu verlieren. Geh in die Klasse."