Nach dem Unterricht hielt ich Radushny zurück. „Hör zu, Kostja, wenn ich auf der Tafel noch einmal solchen Blödsinn sehe, geht es einem Schüler schlecht."
„Welchem Schüler?"
„Dem Schmierfinken."
„Eigentlich ist doch nichts dabei", meinte Kostja. „Ein kleiner Scherz. Aber die beiden zieren sich — unheimlich. Sie wissen ja selbst, wenn jemand keinen Spaß verträgt, zieht man ihn gern noch mehr auf." Ich war empört. „Warum macht ihr euch über sie lustig?"
„Na ja, sie gehen immer zusammen und schreiben Briefe. Wenn man sich täglich sieht, braucht man die Post nicht zu belästigen. Das ist lächerlich. Sehen Sie mal, Juri Wassiljewitsch, dort ist die Melnikowa."
Ich schaute durchs Fenster. Anja ging langsam über den Schulhof. Sie schritt durchs Tor, blickte sich um und verschwand.
„Und an der Ecke steht Jewremow. Er denkt, wir wissen das nicht. Sehen Sie, dort, am Zaun."
Zwischen den Häusern tauchte Anja wieder auf, nicht mehr allein, in Begleitung von Boris.
„Was habe ich gesagt!" rief Kostja triumphierend aus.
Ich erwiderte trocken: „Also, Radushny, entweder nie mehr ein Plus an der Wandtafel, oder..."
„Damit habe ich nichts zu tun", erklärte Kostja unbekümmert.
„Wer sonst?"
„Keine Ahnung."
„Das glaube ich dir nicht."
„Bitte sehr." Kostja machte ein gekränktes Gesicht. „Wenn was los ist, steckt Radushny dahinter. Das bin ich gewöhnt."
Auf seine beleidigte Miene gab ich nicht viel. Ich kannte ihn lange genug, um zu wissen, daß er die Gabe besaß, jederzeit den Ausdruck anzunehmen, der am zweckmäßigsten schien. Offenbar mißtraute ich ihm zu Recht. Von Stund an hörte der Unfug mit „a + b" auf.
Ein Monat verging. Ich wüßte nicht, daß in der Klasse noch jemand von Anja und Boris gesprochen hätte. Die beiden trafen sich nicht mehr heimlich, sondern verließen zusammen das Schulgebäude, obwohl sie nach wie vor getrennt saßen. Der Unterricht verlief ohne Störungen. Ich war zufrieden.
Doch ich sollte mich zu früh gefreut haben.
Unser Städtchen besteht zur Hälfte aus Holz- und zur Hälfte aus Steinhäusern. Nach drei Seiten ist der Ort von hohen Hügelketten eingeschlossen, die vierte gibt den Weg zum Meer frei, das sich in einer breiten Bucht herandrängt. Unsere Schule steht auf einem Hügel in unmittelbarer Nähe der Bucht. Das ist ein Unglück.
Durch den Gürtel der Nadelbäume dringt das Gerassel von Ankerketten und das Knattern der Motorboote herüber. Wenn die Kinder durch die Klassenfenster einen Trawler erspähen, rätseln sie herum, wo er hinfährt. Der Streit beginnt zwar in der Pause, wird aber nicht selten während der Stunde fortgesetzt.
Links von der Schule fließt die Niwa. Auch das ist ein Unglück. Die Flutwellen dringen in den Fluß ein. Diejenigen Schüler, die am Fenster sitzen, finden ein unerklärliches Vergnügen daran, die Bewegungen des Wasserspiegels zu verfolgen und herumzuraten, wie lange es dauern wird, bis die kleine Insel in der Mitte der Niwa nicht mehr zu sehen ist.
Die schönste Zeit für den Lehrer ist der Winter. Der währt bei uns ein halbes Jahr. Kein Wasserflugzeug surrt durch die Luft, die Trawler laufen nicht aus. Der Fluß ist eine glatte, weiße Fläche, auf der es nichts gibt, was die Blicke fesseln könnte. Desgleichen die Bucht: erstarrt, mit Schnee bedeckt. Am anderen Ende der Niwa erhebt sich der „Fräuleinsfels", eine steile Wand. Überall nur Schnee und Stein. So läßt sich's aushalten. Im Winter kommen die Schüler besser voran. Nur der letzte machte in dieser Beziehung eine Ausnahme.
Als ich an einem Februarmorgen in die Klasse trat, sah ich, daß sich sämtliche Schüler vor den Fenstern drängten. Sie stießen sich an, faßten einander um die Schultern, lachten und waren dermaßen übermütig, daß ich fünf Minuten brauchte, um sie leidlich zu beruhigen.
„Was gibt's dort Interessantes zu sehen?" „Das läßt sich schlecht beschreiben", meinte Radushny. Er strahlte vor Freude.
Ich trat ans Fenster und erblickte das weiße Band der Niwa, die mit Rauhreif bedeckten Drähte der Hochspannungsleitung, auf dem Ufer verschneite Barkassen — das gewohnte Bild. Neu war nur die Gleichung, die auf der Felswand prangte. Gegen den dunklen Untergrund hoben sich die riesigen, fast mannshohen weißen Buchstaben deutlich ab. A + B = L
Ich drehte mich um. Es wurde mäuschenstill im Raum. Am Ausdruck meines Gesichts sahen die Schüler, daß ich nicht geneigt war, ihre Begeisterung zu teilen.
„Von uns war das keiner", brummte jemand.
Da gerieten alle in Bewegung. Sie lärmten und schrien, die einen, weil sie sich beleidigt fühlten, andere vor Empörung, die dritten aus bloßer Freude am Toben.
„Nein, wir waren das nicht."
„Wir nicht, Juri Wassiljewitsch."
„Wir wissen auch nicht, wer es war." „Was können wir dafür?"
Ich sah Radushny an. Er grölte gleichfalls. Als sich unsere Blicke trafen, verstummte er, schürzte die Lippen und senkte die Stirn.
Er, dachte ich.
Nach dem Unterricht hielt ich ihn zurück. Ich war meiner Sache so sicher, daß ich sehr grob mit ihm umsprang. Schmollend, mit gerötetem Kopf stand er vor mir und leugnete alles — daß er die Tafel besudelt hatte, daß er für die Inschrift auf der Felswand verantwortlich sei. Er besäße überhaupt keine Farbe. Bitte schön, ich könnte ihn ja durchsuchen lassen.
„Wer war es dann?" fragte ich.
„Das weiß ich nicht", erwiderte Kostja ärgerlich, „und wenn ich es wüßte, würde ich es nicht sagen. Er soll sich selber melden."
Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen.
Eine verzwickte Geschichte. Die Schüler wußten anscheinend tatsächlich nichts. Ich war nach wie vor überzeugt, daß Radushny dahintersteckte. Aber wie sollte ich ihn überführen? Außerdem bin ich Lehrer und kein Detektiv.
Da war guter Rat teuer. Anja und Boris getrauten sich nicht mehr, miteinander zu sprechen. Die Klasse merkte das sehr schnell, auch mir blieb es nicht verborgen.
Bald trug die Felswand eine neue Inschrift.
A + B = ?
Von der stillen Hoffnung getrieben, wenigstens einen Anhaltspunkt zu finden, machte ich mich eines Abends zum „Fräulein" auf.
Auf der Niwa lag hoher Schnee. Er quoll in die Stiefel. Im Halbdämmer reckte sich der mächtige Felsen. Von der Seite gelangt man bequem bis zur halben Höhe und kann dann einen schmalen Sims benutzen, der sich waagerecht über die Wand zieht.
Vorsichtig tat ich den ersten Schritt, die Brust gegen den Stein gepreßt, und suchte mit den Händen Halt. Im Rücken spürte ich die gähnende Leere des Abgrunds.
Der Fels war kalt. Die nackten Finger wurden klamm, aber ich tastete mich weiter. Als der dritte Schritt getan war, stand ich vor dem A. Ich ließ eine Hand sinken und kratzte an der trockenen Farbe. Mein Körper geriet ins Schwanken. Die Wand wich zurück, Zentimeter nur, aber ich hatte Mühe, das Gleichgewicht wiederzufinden.
Diese wenigen Sekunden waren die schrecklichsten in meinem bisherigen Leben. Als ich den seitlichen Hang wieder erreicht hatte und mit dem Abstieg begann, zitterten mir die Knie, und das Hemd klebte am Rücken. Ich schwitzte trotz der fünfundzwanzig Grad Kälte, die an jenem Abend gemessen wurden.
Erst daheim kam mir völlig zu Bewußtsein, in welcher Gefahr ich geschwebt hatte. Und der Schöpfer dieser Inschrift hatte auch noch Farbtopf und Pinsel halten müssen. Es konnte kein Feigling sein. Radushny! Mein Verdacht schien eine neue Bestätigung gefunden zu haben. Radushny, der weder sich noch andere schonte, wenn er eine Gelegenheit sah, Lorbeeren zu ernten.
Wenige Tage danach traf ich Anja und Boris vor dem Kino. Ich ging auf die beiden zu, um ihnen zu sagen, daß sie den dummen und bösartigen Scherz nicht weiter beachten sollten. Boris hatte mich gesehen. Er wandte sich schroff ab und lief fort.