„Boris", rief Anja, ,,ich habe doch die Karten!"
Boris blieb stehen. Im grünen Licht der Reklame war sein Gesicht bleich und böse.
Er sah ins Leere. „Deine Karten kannst du zerreißen", heulte er, rannte weiter und war bald um die Ecke verschwunden. Ich betrachtete Anja, die kaum noch die Tränen zurückhalten konnte. Doch ist es mir nicht gegeben, einen Menschen zu trösten. Wieder stellte ich mich ahnungslos.
Anja und Boris waren ein Herz und eine Seele gewesen, seit der ersten Klasse befreundet. Etwas mußte geschehen, um dem unbekannten „Künstler" das Handwerk zu legen.
Ich wandte mich an Bokow. „Kolja, du weißt offenbar, wer den Unsinn damals an die Tafel geschrieben hat, sicher derselbe Schmierfink, der auch der Urheber dieser Inschrift ist. Wir werden jetzt beide zu diesem Schüler gehen und mit ihm reden. Das ist besser für ihn. Über kurz oder lang wird er sich doch verraten."
Bokow wurde verlegen. Ich verstand das. Nie in meinem Lehrerdasein hatte ich einem Schüler je solche verfängliche Fragen gestellt. Trotzdem beschloß ich, hart zu bleiben.
„Nun?"
„Juri Wassiljewitsch, ich weiß es nicht."
„Und das soll ich dir glauben? Du mußt doch einsehen, daß es einfach gemein ist, sich gegenüber seinen Kameraden so aufzuführen. Es sind eure Freunde."
Bokow trat von einem Bein aufs andere. Er zupfte an seinem Hemd und vermied es, mich anzusehen.
Das Gespräch ging ihm offenbar sehr nahe. Schließlich bequemte er sich zu folgender Aussage: „Das weiß in der ganzen Klasse keiner. Alle fragen rum, niemand weiß was."
„Und wer hat das an die Tafel geschrieben?"
„An welche Tafel?"
„Auf den Tafelrand, nach den Ferien."
„Wissen Sie das wirklich nicht?"
„Nein."
Bokow schluckte. Über der Nasenwurzel krochen seine Brauen zusammen. Er dachte angestrengt nach. Es war eine Qual, ihn zu sehen. Ich ging ans Fenster, um es ihm leichter zu machen, mit sich ins reine zu kommen.
„Warum fragen Sie immer mich?" meinte Bokow vorsichtig.
„Das habe ich dir schon erklärt. Weil ich den Eindruck habe, daß du Bescheid weißt."
„Nein", sagte er nach einer Pause, „ich weiß es auch nicht."
„Dann geh jetzt. Vergiß unser Gespräch. Verstehst du?"
„Natürlich", rief er erleichtert aus, „natürlich, auf Wiedersehen, Juri Wassiljewitsch." Nach wie vor stand das weiße Fragezeichen an der Felswand. Allmählich wurde die Farbe blasser. Im April war es kaum noch zu erkennen. Am Ersten Mai zogen die Schulklassen durch die Hauptstraße ans Meer, um dort ein Feuer zu machen. Sie marschierten in Achterreihen, fröhlich, lärmend, hielten sich bei den Händen. Anja und Boris gingen nebeneinander, sangen Lieder wie alle anderen und warfen feuchte Schneeklümpchen in die vorderen Reihen.
Am dritten Mai leuchtete eine frische Inschrift von dem Fräuleinsfelsen. A + B = !!!
Melnikowa und Jewremow kamen nicht in die Schule.
Ich unterrichtete, aber in mir kochte es. Ich weiß nicht, was ich mit dem „Künstler" getan hätte, wenn er mir an diesem Morgen unter die Augen geraten wäre. Die Schüler witterten meine Stimmung. Kein Blick stahl sich zur Fensterscheibe, niemand lachte. Die Klasse saß still, war nicht ganz bei der Sache.
Als es läutete, warf ich wütend hin: „Nach dem Unterricht ist Versammlung", und rannte hinaus.
Die nächste Stunde hatte ich in einer anderen Klasse. Zwanzig Minuten nach Beginn vernahm ich aufgeregtes Gemurmel, das von draußen kam. Ich trat ans Fenster. Vor der Felswand hatte sich eine Menschenmenge eingefunden. Ich traute meinen Augen nicht, aber es war eine Tatsache: Das A und das halbe B hatte jemand mit schwarzer Farbe überpinselt.
Zwei Männer schleppten einen Jungen. Ich konnte die Gesichter nicht erkennen, wußte jedoch, daß sie Boris Jewremow trugen. Sie bewegten sich auf die Poliklinik zu. Ich stand am Fenster und hatte zu sprechen aufgehört.
Als ich an den Tisch zurückging, trafen mich viele verständnislose Blicke.
„Ich muß euch für eine Viertelstunde allein lassen", sagte ich, „verhaltet euch still."
Wie ich war, ohne Mantel, rannte ich aus der Klasse, den Berg hoch, auf dem die Klinik stand. Den Pförtner, der sich mir in den Weg stellte, schob ich beiseite. Im Operationssaal wusch sich ein Mann in weißem Kittel die Hände. Boris war nicht zu sehen.
„Was ist mit dem Jungen?" Der Arzt drehte sich um.
Er runzelte die Stirn und sagte: „Junger Mann, auf seine Kinder muß man besser achtgeben."
„Es ist nicht meiner."
„Natürlich", entgegnete der Arzt nachdenklich, „für einen so großen Jungen sind Sie zu jung. Was suchen Sie dann im Operationssaal?"
„Ich bin sein Lehrer."
„Also muß man auf seine Schüler besser achtgeben", brummte der Arzt, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Er wusch sorgfältig seine Hände, jeden Finger einzeln.
„Ich habe Sie gebeten, mir zu sagen, was mit ihm ist", erwiderte ich gereizt. Ich hätte ihn ohrfeigen können.
„Nichts Besonderes." Der Arzt zog die eine Hand heraus und bearbeitete die andere. „Er hat großes Glück gehabt. Das Schultergelenk ist ausgekugelt. Wenn wir es einrenken, wird er etwas schreien, aber das geht vorüber. Und jetzt seien Sie so liebenswürdig und verlassen Sie den Saal."
„Danke, schönen Dank, Herr Doktor", rief ich erfreut.
Als ich wieder in der Schule war, näherte sich die fünfte Stunde ihrem Ende. Die Schüler empfingen mich mit großen Augen.
Sie wußten schon Bescheid. Das sah ich ihnen an.
„Was machen wir nun?" fragte ich.
Sie schwiegen betreten.
„Juri Wassiljewitsch", ließ sich endlich einer vernehmen, „wird er wieder gesund?"
„Das weiß ich nicht. Darüber hättet ihr euch vorher den Kopf zerbrechen sollen."
„Wir sind es nicht gewesen. Wir nicht. Niemand weiß was." Wie auf Kommando kamen die Kinder nach vorn, umringten meinen Tisch und schrien durcheinander. In diesem Lärm verstand man sein eigenes Wort nicht.
Ich ließ den Blick über die Gesichter gleiten, fand darauf Entrüstung, gekränkten Stolz, Zorn.
Nein, aus meiner Klasse war es wirklich keiner, dachte ich erleichtert. Dann sah ich plötzlich Bokow.
Er schrie nicht wie die anderen, sondern stand ganz hinten und starrte schweigend auf den Fußboden.
„Ruhe!" forderte ich.
Die Klasse nahm keine Notiz davon.
„Ruhe! Ich weiß, wer es gewesen ist."
Das Getöse riß ab wie eine Radiosendung, wenn man den Apparat ausschaltet.
„Setzt euch hin!"
Sie zerstreuten sich aufreizend langsam.
„Ich weiß es. Aber der Betreffende soll den Mut haben, sich zu melden."
Schweigen.
„Nun gut, dann werde ich jeden einzeln fragen. Skopin, du?"
„Nein."
„Bogatyrewa?"
„Aber, Juri Wassiljewitsch!"
„Radushny?"
Radushny stieß geräuschvoll die Luft aus und schüttelte den Kopf.
„Klenow?"
„Juri Wassiljewitsch, wie können Sie..."
„Bokow?"
Bokow stand auf. Seine Lippen zitterten. Für einen Augenblick tat er mir leid.
„Warum — ich? Nein, ich..."
Ja oder nein?"
„Guckt euch doch seine Stiefel an", brüllte Radushny, „da klebt ja noch die Farbe dran."
Im Nu waren alle wieder auf den Beinen.
„Juri Wassiljewitsch", flehte Bokow mit brüchiger Stimme, „kann ich es Ihnen allein sagen, draußen „Nein, hier, vor allen."