Bokow wandte sich ab. Mit gesenktem Blick schlich er zur Tür.
„Kinder, er hat seine Mappe vergessen", rief Kostja.
Mehrere Schüler stürzten an seine Bank. Die Tasche, die daraufliegenden Hefte, der Füllfederhalter, das angeknabberte Frühstücksbrot — alles flog durch den Raum und fiel vor der Tür nieder. Bokow bückte sich nicht. Er stakste hinaus. Die Klasse schwieg.
Am Abend sprach mich Bokow auf der Straße an. „Juri Wassiljewitsch, ich war es nicht, Ehrenwort, ich nicht."
„Warum bist du dann aus der Klasse gerannt und hast uns nichts erklärt?"
„Wegen der Farbe. Ich habe bloß die Büchse gehalten. Zufällig ist etwas auf meine Filzstiefel getropft. Aber geschrieben habe ich nicht, nur dabeigestanden."
„Wer hat geschrieben?"
„Ein Bekannter von mir. Er geht in eine andere Schule. Richtige Freunde sind wir gar nicht. Ich habe ihm die Geschichte erzählt, und er wollte gleich schreiben. Da habe ich die Farbe besorgt und angerührt. Entschuldigen Sie, Juri Wassiljewitsch, aber das kommt nie wieder vor. Ich will auch alles ehrlich sagen, wie es gewesen ist. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen die Adresse. Rote Straße zehn, die Wohnung..."
„Ich brauche keine Adresse", unterbrach ich ihn. „Bokow, ich denke, es ist besser, wenn du uns verläßt. Auf eigenen Wunsch."
„Ich habe doch alles ehrlich zugegeben", heulte Bokow.
Am anderen Tag kam seine Mutter. Sie trug dem Direktor die Bitte vor, ihren Sohn an eine andere Schule zu versetzen. Mir ging sie geflissentlich aus dem Weg. Der Direktor erhob keine Einwände. Im Sommer wurde die Inschrift trocken und bröcklig. Der Herbstregen spülte sie fort. Boris ist längst wieder gesund. Er sitzt mit Anja auf einer Bank. Wie in alten Zeiten.
Die Spiegeleier
Auf der Insel wuchsen krummbeinige Kiefern, Heidelbeerbüsche, niedriges Wacholdergestrüpp. Zwei Menschen waren angekommen.
Das Schutzhäuschen lag am Ufer einer kleinen Bucht. Dahinter begann der See. Er zog sich durch die ganze Insel. Vom Meer war er nur durch einen aufgelockerten Baumgürtel getrennt.
Die Brut der Sägetaucher schwamm vertrauensselig bis in unmittelbare Nähe des Häuschens, aber den Mann und den Jungen würdigten die Vögel keines Blickes. Die beiden waren gekommen, um sie zu schützen, nicht zu töten.
Der Ornithologe in seiner grünen, mit vielen Taschen versehenen Wetterjacke saß am Ufer und schrieb etwas in sein Notizbuch. Ein wenig abseits, auf einem Haufen von sprödem, trockenem Blasentang lag der Junge. Er war lang aufgeschossen, und an seinem Körper konnte man die Knochen zählen. Jetzt stützte er sich auf die Ellbogen.
Er sah durch ein Fernglas. In dem hellgrünen Oval, dicht vor seinen Augen, schwammen Wellen mit weißen, zerfließenden Kämmen.
Langsam hob er den Feldstecher höher. Im gleichen Tempo sanken die Wellen nach unten, verschwanden aus dem Gesichtskreis, und oben traten neue an die Stelle der alten. Dann kräuselte sich ein Streifen, die Brandung, durch das Oval, und der zweihöckrige Gipfel einer anderen Insel wurde sichtbar. Auf einem der beiden Hügelchen stand der vergitterte Scheinwerfer des Blinkgeräts. Bis dorthin waren es sieben Kilometer. Mit Hilfe des Glases konnte man die Bretter der Holzverkleidung zählen. Gleich unterhalb der Blinkanlage befand sich die Naturschutzverwaltung, aber das Gebäude war durch ein Kap verdeckt. Der Junge bewegte den Kopf leicht zur Seite. Da sprang das Blinkgerät nach links. Mit fabelhafter Geschwindigkeit huschten die Hänge des Festlandufers dahin, und vor den Augen zitterte der Schornstein der Fischfabrik.
Bis zur Stadt waren es sechzehn Kilometer. Bei ruhigem Wetter klang von dort Musik herüber, und man hörte das Heulen der Schiffssirenen.
Sie saßen bereits den zweiten Tag an der Bucht fest. Der Sturm hatte ihnen den Rückweg abgeschnitten.
Der Junge ließ das Fernglas sinken und blickte den Ornithologen an, der noch immer in sein Büchlein schrieb. Dabei saß er so dicht am Wasser, daß die Brandung bis in seine Nähe spritzte. Viktor dachte angewidert, daß dieser Mensch wahrscheinlich alles genau nach Vorschrift tat.
Vor einer Woche waren sie, fünf junge Naturfreunde, aus der Stadt zur Schutzverwaltung gefahren. Dort hatte man ihnen eröffnet, sie seien zur unrechten Zeit gekommen, die Beringung der Vögel habe begonnen, und niemand könne sich um sie kümmern. Wenn sie aber Lust hätten, sollten sie als Naturschutzhelfer arbeiten, jeweils einer mit einem Beauftragten zusammen.
Und ob sie wollten! Einmütig standen sie vor dem Gebäude der Naturschutzverwaltung. Dann war dieser hagere Ornithologe in der Wetterjacke herangetreten.
„Ich fahre jetzt raus", sagte er, „einer kann mitkommen. Die Arbeit hat's in sich." Nach diesen Worten kletterte er, ohne sich noch einmal umzusehen, ins Boot. Offenbar war es ihm völlig gleichgültig, wer ihn begleitete.
Er machte das Boot von der Schwimmsperre los und legte die Riemen ein. Sicher wäre er auch allein abgestoßen, hätte Viktor sich nicht entschlossen, ihm zu folgen.
„Setz dich. Rudern kannst du?"
„Freilich, dies Jahr habe ich an der Regatta teilgenommen", entgegnete Viktor und wartete auf die üblichen Fragen: An welcher Regatta? Welchen Platz habt ihr belegt?
Die Fragen blieben aus.
Der Ornithologe ruderte mit kurzen, flachen Schlägen wie jemand, der gewöhnt ist, große Entfernungen zu überwinden.
„Vielleicht soll ich Sie mal ablösen?"
„Das ist keine Regatta. Hier wird gearbeitet."
Der Ornithologe saß auf der Mittelbank, Viktor im Heck, ihm gegenüber. Häufig begegneten sich ihre Blicke, und der Ornithologe runzelte die Stirn. Er war an Einsamkeit gewöhnt.
Die fliehenden Rücken der Inseln zerfurchten den Meerbusen wie ein schwimmender Flottenverband.
Das Boot näherte sich einem baumlosen Inselchen. Der Ornithologe zog einen Kreis, um die jungen Vögel ans Ufer zu treiben. Als die Nestlinge das Boot sahen, strebten sie dem Land zu und steckten den Schnabel zwischen die Steine. Ihre erstarrten Körperchen schaukelten wie Spielzeugschiffchen auf den Wellen.
„Die Mehrzahl der Vögel nistet auf solchen kahlen, kleinen Inseln", erklärte der Ornithologe im Tonfall eines unfreiwilligen Pädagogen.
„Ich weiß", entgegnete Viktor.
Der Ornithologe sprang ans Ufer, bückte sich und hob einen jungen Schlangenadler auf. Das tat er so behutsam, als hätte er eine heiße Kartoffel in die Hände genommen.
„Paß auf, wie man das macht."
„Ich weiß, ich weiß", entgegnete Viktor, „ich habe schon voriges Jahr..."
Der Ornithologe tat, als wäre er taub. Er streckte das Vogelbeinchen und schloß ein silberschimmerndes Metallreifchen mit einer eingravierten Nummer darum.
„Vor allen Dingen mußt du aufpassen, daß du das Bein nicht verletzt."
„Ich weiß", entgegnete Viktor, „bitte, geben Sie mir einen Ring."
„Du wirst die Kücken einfangen und sie mir bringen."
„Wozu haben Sie mir dann gezeigt, wie man es macht?" fragte Viktor. Dieser Mensch fing an, ihn aufzubringen.
Der Ornithologe runzelte die Stirn.
„Nimm den linken Uferstreifen, aber sei schön vorsichtig, damit du nicht auf so ein kleines Kerlchen trampelst. Sie haben sich zwischen den Steinen versteckt."
So gingen sie die Insel ab, der Junge auf der einen, der Ornithologe auf der andern Seite. Zwischen ihnen lagen dreißig Meter Land. Viktor lieferte die eingefangenen Vögel ab. Der Naturschutzbeauftragte nahm sie vorsichtig in Empfang, und wenige Sekunden später flatterten sie, mit einem Ring versehen, davon. Alles geschah lautlos und flink. Die Stille ging dem Jungen auf die Nerven. Für den Ornithologen war er Luft. Viktor dachte: Wenn ich ihm die leere Hand hinhalte, steckt er mir bestimmt einen Ring an den Finger, dann latscht er genauso maulfaul weiter wie bisher, ohne sich noch mal umzugucken.