„Quälen wir sie nicht?" fragte Viktor, als er dem Ornithologen das nächste Kücken reichte.
„Was sein muß, muß sein", war die lakonische Antwort.
Schön, dachte Viktor, dann kriegst du von mir eben kein Wort mehr zu hören.
Wenige Minuten später fing er das erste Eiderentchen. Der kleine dunkelbraune Knäuel lag in seinen Handflächen und hackte hilflos mit dem breiten Schnabel auf die Finger ein. Das Kücken war feucht. Es zitterte. Viktor lief zu dem Ornithologen hinüber.
„Das ist bestimmt krank. Vielleicht nehme ich es lieber mit?"
„Kerngesund", sagte der Ornithologe, „die Drüsen sondern noch wenig Fett ab, deshalb wird das Gefieder naß. Laß das Kleine laufen. Bei dir lebt es höchstens vierundzwanzig Stunden."
„Wieso bei mir?"
„Auch bei mir", ergänzte der Ornithologe trocken. Am ersten Tag beschrieben sie einen großen Kreis und fuhren noch fünf andere Inselchen ab. Viktor war so müde, daß es ihm vor den Augen flimmerte. Als sie das letzte kleine Eiland betraten, kam es ihm schon vor, als wimmelte das ganze Ufer von jungen Vögeln. Er bückte sich oft und breitete die Hände über einen Stein statt über ein Kücken.
Auf dem Rückweg ruderte der Ornithologe länger als eine Stunde in kurzem, gleichmäßigem Rhythmus, als wäre er kein Mensch, sondern eine Maschine. Das Wasser schlief, und sie trieben an Inseln vorüber, die zu träumen schienen. Dann versank die Mitternachtssonne hinter dem Horizont. Nun lagen die Landflecken finster da wie bucklige Fabelwesen.
Viktor erwachte, als das Boot gegen die Schwimmsperre stieß. Er stieg aus und trabte auf das Haus zu.
Der Ornithologe hielt ihn zurück. „Warte. Wo wirst du dich hinlegen?"
„Ich habe einen Schlafsack eingepackt." „Willst du nichts essen?" „Hab was mitgebracht."
„In Ordnung." Der Ornithologe blickte auf die Uhr. Es war halb eins. „Um sechs brechen wir wieder auf." Er sah Viktor an, dann wieder zur Uhr.
„Schön, um acht."
„Von mir aus um fünf", erwiderte Viktor barsch. Der Ornithologe wies ihn zurecht. „Hier bestimme ich."
Da schlenderte Viktor weiter und schlurfte absichtlich laut. Als er die Treppe hochging, sah er, daß der Ornithologe bereits im Boot saß und wenige Sekunden später losruderte.
Im Zimmer schliefen Viktors Freunde. Sie hatten sich mit ihren Schlafsäcken auf dem Fußboden ausgestreckt und lagen in einer Reihe wie Soldaten. Viktor tat es ihnen gleich. Im Nu war er eingeschlafen.
Fast im gleichen Augenblick, so schien es ihm, rüttelte ihn jemand an der Schulter. Schlaftrunken sprang er hoch und schwankte auf den Beinen. Nur ganz allmählich, wie ein Bild auf einem Stück Fotopapier, nahm das von Sonnenlicht durchflutete Zimmer Gestalt an.
„Komm frühstücken", forderte ihn der Ornithologe auf, „nebenan stehen Brei und Tee auf dem Tisch."
„Ich habe mein Essen mitgebracht." Viktor angelte nach dem Rucksack.
„Das steckst du ein. Es ist schon neun Uhr."
Eine halbe Stunde später waren sie bereits weit draußen. Wieder saßen sie stumm im Boot. Nur das Plätschern der Ruder Schläge unterbrach die Stille. Abermals kamen sie an Inseln vorüber, die dalagen, als wären sie in den Spiegel der See eingelassen. An diesem Tage hatten sie nur ein einziges Reiseziel. Bis dorthin waren es zwanzig Kilometer.
Fünf Stunden wiegte sich der Ornithologe pausenlos auf seinem Bänkchen. Dann sprang er ans Ufer, wippte auf den Zehen, rekelte sich, und über sein Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln. Es war ihm angenehm, daß er endlich den Rücken strecken konnte.
Auf dieser Insel beringten sie dreizehn Kücken. Viktor überlegte: Den Rückweg eingerechnet, kommen auf jeden Vogel drei Kilometer.
Bevor sie aufbrachen, ließen sie sich nieder, um zu essen. Der Ornithologe holte Brot, Wurst und eine Thermosflasche aus dem Rucksack. Viktor packte Kuchen, eine lange Semmel und Wurst aus. Sie saßen auf zwei platten Steinen. Vor ihnen lagen die Lebensmittel. Sie tranken ihren Tee aus einem Kunststoffbecher und schnitten das Brot mit einem Messer. So kauerten sie nebeneinander, beide abgespannt, unausgeschlafen — Menschen, die am selben Werk schufen. Viktor wartete darauf, daß der Ornithologe ihn ansprach oder ihm die Hand auf die Schulter legte oder sonst etwas tat, wofür Viktor ihm sofort alles verziehen hätte.
Der Ornithologe schlürfte seinen Tee und nahm den heißen Becher aus der einen Hand in die andere. Zum Schluß schüttelte er die Krumen von den Knien. Dann stand er auf.
Da begriff Viktor, daß er umsonst gewartet hatte. Es würde kein Gespräch geben. Er sah den Mann mit einem Blick an, in dem fast etwas wie Haß lag. Wußte denn der überhaupt, was ein Menschenherz bewegte? Vielleicht war es der Ausdruck dieser Jungenaugen, was den Ornithologen veranlaßte, wenigstens ein paar Phrasen durch die Zähne zu murmeln?
,,Hat's dir auf der Insel gefallen?"
„Ja", erwiderte Viktor.
„Wir haben eine Silbermöwe beringt. Das gelingt nur selten."
„Ich werde rudern", sagte Viktor brummig.
„Gut", willigte der Ornithologe ein.
Fünf Tage lang fuhren sie Eiland auf Eiland ab, erst die entfernteren, dann die näheren. Immer enger wurden die Kreise, und schließlich verblieben auf ihrem Abschnitt nur noch wenige Inseln in der Mitte des Meerbusens. Noch nie in seinem dreizehnjährigen Leben hatte Viktor so viel arbeiten müssen. Trotzdem schaffte der Ornithologe mehr. Er kletterte auch dann ins Boot und ruderte los, wenn Viktor in seinem Schlafsack ruhte. Er schlief so gut wie gar nicht. Man sah es an seinem abgezehrten, von Sonne und Wetter gezeichneten Gesicht und an den borkigen Lippen, zwischen denen eine glimmende Papiros zitterte: Seine Bewegungen waren nervös, flink wie bei ihrer ersten Begegnung. Als Viktor wieder einmal in das lange, hagere Gesicht blickte, kam ihm der Gedanke, dieser Mann sehe aus wie ein hungriger Hund.
Von Tag zu Tag verriet der merkwürdige Mensch größere Eile. Gewöhnlich kehrten die beiden als letzte zurück und brachen als erste auf. Der Ornithologe war unerbittlich gegen sich selbst. Doch gab ihm dies das Recht, unerbittlich auch gegen andere zu sein?
Viktor spürte die Jungvögel auf. Er ruderte, teilte mit seinem Gefährten das Essen. Aber selbst im Boot, wenn der Ornithologe die Riemen schwang, wagte Viktor nicht einzuschlafen. Er wollte kein Schwächling sein. Schließlich war er am Meer geboren, und durch seine Körpergröße wirkte er viel älter. Man hätte ihn für sechzehn halten können. In seinen Adern floß das Blut der Vorfahren, tüchtiger Seebären, und der Eigensinn des Großvaters war in ihm lebendig. Niemals hätte er sich eine Blöße gegeben, lieber wäre er gestorben. Der Ornithologe aber bemerkte nichts von alledem. Der zielstrebige Eifer des Jungen blieb ihm verborgen. Viktors mißgünstige Gefühle ließen ihn genauso kalt, wie ihn sicherlich seine Symphathie gelassen hätte. Und das war der Grund, weshalb Viktor ihn beinahe haßte.
Neben diesem haßähnlichen Gefühl wohnte jedoch ein zweites, und dieses zweite regte sich nicht minder kräftig.
Wie gesagt, Viktor ist am Meer aufgewachsen. Er weiß, was arbeiten heißt. Ob er wollte oder nicht, er bewunderte den sonderbaren Kauz, der es nicht einmal für nötig befunden hatte, seinen Namen zu nennen. Den Jungen wurmte es, daß er sein Werk nicht auch so gut verstand wie der Ornithologe.
Gegen Abend des fünften Tages bedeckten sich die Berggipfel auf dem Festland mit dicken Wolken. Vom Meer her machte sich eine frische Brise auf. Viktor und sein Meister befanden sich gerade auf einem kleinen Eiland, das im Schutze einer größeren Insel lag, so daß sie den Wind nicht richtig merkten. Als sie ihren Rundgang beendet hatten, warf der Ornithologe einen flüchtigen Blick auf die Fluten, die sie vom Verwaltungsgebäude trennten. In der Mitte der Wasserstraße tanzten vom Wind gepeitschte Schaumkämme.