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„Komm mal her", rief der Ornithologe. Viktor trat heran.

„Sieh mal, wie der Tang im Wasser wieder zu leben beginnt. Dort drüben ist er noch tot, aber wo die Flut hinkommt, entfaltet er sich wie eine Blume."

Viktor blickte den Ornithologen erstaunt an.

„Sie sprechen mit mir, damit ich den Hunger nicht so spüre?" 

„Ist's denn sehr schlimm damit?" „Ach wo." 

„Dann nimm." Der Ornithologe zog ein zerdrücktes Stück Brot aus der Tasche. 

Viktor spürte, daß er rot wurde, und legte die Hände auf den Rücken.

„Ich mag nicht", hauchte er.

„Hör mal, ich habe schon ärgeren Hunger ertragen müssen. Außerdem esse ich es sowieso nicht."

Er sagte es mit unveränderter Stimme, weder bittend noch fordernd, aber Viktor wußte: Essen wird er es bestimmt nicht.

Da streckte der Junge die Hand aus und nahm das Brot.

„Ich denke, morgen sind wir wieder zu Hause", sagte der Ornithologe.

Viktor trat einen Schritt zurück, wandte sich ab und ging rasch das Ufer entlang. Das Brot preßte er gegen die Brust. Die Beine waren jetzt stark und trugen ihn mit Leichtigkeit, fast mühelos, über die Steine. Das Hungergefühl und die Müdigkeit waren verschwunden, von unerträglicher Scham verdrängt.

Am Kap spürte er den Wind, der durch die Baumwipfel pfiff und von oben seinen Rücken peitschte. Über die schlüpfrigen, von Tang bedeckten Steine schritt er dem Wasser zu. Von hier sah er nur noch das Dach des Schutzhäuschens.

Er holte weit aus und schleuderte das Brot, so weit er konnte, ins Meer. Dann hockte er sich hin. Lange betrachtete er den zweihöckrigen Gipfel, der hinter den Fluten aufragte. Sieben Kilometer gischtende See trennten ihn von jener Insel. Dort drüben gab es Brot in Hülle und Fülle. Zwanzig Meter weiter schimmerte ein brauner Kanten. Die Strömung trieb ihn auf das Ufergeröll zu, und der Junge dachte, wenn das Brot ans Ufer gespült werden sollte, würde es schwerhalten, ein zweites Mal darauf zu verzichten, aber er dachte auch, daß er sich sehr tapfer geschlagen habe, und bei diesem Gedanken traten ihm Tränen in die Augen.

Viktor wandte sich ab. Sein Blick fiel auf die kleine Insel. Dort waren sie vom Sturm überrascht worden. Er konnte sogar den großen Stein erkennen, in dessen Nähe ihn der kleine Schlangenadler gehackt hatte.

Daneben befand sich sein Nest, und ein Stückchen weiter, auf dem höchsten Punkt des Inselchens, nisteten im Holundergebüsch Eiderenten. Dort lagen in einem Körbchen aus Daunenfedern acht große, warme Eier.

Einer Eingebung folgend, sprang Viktor auf die Füße. Acht warme Rieseneier; dreihundert Meter bis zu einem herrlichen, dampfenden Gericht! Und er kann hinrudern, weil die Insel ihn vor dem Sturm schützt und die See auf diesem Abschnitt nicht so hoch geht.

Der Ornithologe saß im Boot. Mit einer Konservendose schöpfte er das Wasser aus. Durch die Wolkendecke blinzelte die Sonne. Sie beschien sein Gesicht, dessen Haut vom vielen Wind und Wetter rauh geworden war und dessen Backenknochen scharf hervorsprangen. Es war das Gesicht eines müden Menschen. Viktor las eine zweite Büchse auf, die am Ufer lag, und begann gleichfalls, das Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Er fürchtete die Frage, weshalb er fortgelaufen sei, aber der Ornithologe blieb stumm.

Erst nach geraumer Zeit sagte er: ,,In zwei Stunden haben wir volle Flut. Dann müssen wir das Boot ins Wasser schieben. Wahrscheinlich kriegen wir eine ruhige Nacht."

Viktor wollte jetzt nicht, daß sich der Sturm legte. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, acht Rieseneier zu holen. Sie würden was zu essen haben, jeder vier. Nichts konnte ihn hindern, rüberzurudern, auch nicht der Sturm, selbst wenn er weiter zunehmen sollte.

Die Wellen züngelten die trockenen Steine hinauf und schwappten zurück ins Meer. Jede Woge kam ein kleines Stückchen weiter als ihre Vorgängerin, doch alles in allem stieg die Flut qualvoll langsam. Viktor kehrte sich ab. Als er wieder hinschaute, schwamm das erste Bändchen Blasentang bereits im Wasser. Bis zur vollen Flut verblieben noch anderthalb Stunden.

Die volle Flut trat pünktlich ein, kündigte sich mit einem weithin tönenden Schlag gegen das Heck des Bootes an.

„Zugepackt", gebot der Ornithologe, „bloß paß auf, daß du dich nicht überanstrengst, sonst wird dir schwindlig."

Viktor ergriff eine Holzstange. Er stemmte sich aus Leibeskräften dagegen, bis der steinige Strand und das Meer Karussell zu fahren schienen und bunte Kreise vor seinen Augen schwammen.

„Jetzt müssen wir warten, bis das Wasser zurückgeht", erklärte der Ornithologe, „dann stoßen wir das Boot allmählich runter. Ich passe schon auf. Du kannst dich inzwischen hinlegen. Wenn es soweit ist, rufe ich dich."

Viktor war es recht. „Ich lege mich gleich hin. Nur, ich habe zehn tote Kücken gesehen. Beinah hätte ich vergessen, es Ihnen zu erzählen. Unten, am See, wo das Futterhäuschen steht. Sie treiben auf dem Wasser."

„Was für Kücken? Das ist doch dummes Zeug!"

„Nein, zehn Stück, sie schwimmen mit dem Bauch nach oben", wiederholte Viktor eigensinnig.

Diese Lüge hatte er sich vorher zurechtgelegt.

„Komm, zeig sie mir."

„Bei mir dreht sich alles wie ein Karussell", wandte Viktor ein. 

Und das war keine Lüge. „Am Futterhäuschen?" 

„Ja." 

„Ich bin gleich zurück", versprach der Ornithologe.

Kaum war er hinter den Bäumen verschwunden, als Viktor das Boot ins Wasser schob. Er ruderte schnell, um aus der Bucht heraus zu sein, bevor der Ornithologe zurückkam.

Hier war das Wasser verhältnismäßig ruhig. Von der See her rollten nicht allzu hohe Wellen heran. Wo es ins offene Meer hinausging, hielt Viktor inne. Vorn, ganz nahe, nur durch eine unsichtbare Linie getrennt, schäumten lärmende Brecher auf die Insel zu. Sie kamen langsam und unaufhörlich, in endloser Folge.

Viktor hob unentschlossen die Riemen, ließ sie sinken, hob sie wieder und begriff, daß er den letzten Mut verlieren und umkehren würde, wenn er noch ein paar Sekunden zögerte. Er schaute zurück zum Ufer und erblickte den Ornithologen, der stolpernd über die Steine rannte und etwas schrie. Da legte sich der Junge in die Riemen. Er durchbrach die heimtückische Linie.

Eine Woge packte das Boot, hob es mit Leichtigkeit, aber zugleich mit unwiderstehlicher Gewalt empor. Dann stieß sie den Bug genießerisch ins Wasser. Das Ufer vollführte einen hüpfenden, wiegenden Tanz. Ein Abgrund tat sich auf. Das Boot stürzte hinein. Über dem Rand wuchs eine grüne Wand aus geäderten Blasen und Schaum empor. Erschaudernd schlug Viktor beide Riemen hinein, und langsam kroch das Boot nach oben, schwang sich auf den Kamm einer neuen Woge und klatschte mit dem Boden abermals in den sich öffnenden Schlund.

Das Wasser lief unter den Riemen davon. Viktor versuchte, die zurückweichenden Massen zu fangen, sich gegen die hochwachsenden Wellenberge zur behaupten. Er hatte Angst, solche Angst wie noch nie im Leben. Wirre, unzusammenhängende Gedanken kreuzten durch sein Hirn. O ja, er hatte viel Schlimmes getan, sich gegen die Mutter versündigt, den Menschen fortzulocken.

Viktor legte die acht schweren, warmen Eier in seine Mütze und machte sich auf den Rückweg zum Boot. Er spürte, wie die Beine merkwürdig weich wurden und wie sie einknickten.

Dann begann alles von vorn.

Wieder schaukelte das Boot und legte sich auf die Seite. Wieder tanzten Himmel und Ufer. Und der tosende Wasserstreifen am Eingang der Bucht. Und die komische weiße Menschengestalt am Kap. Viktor ruderte das Boot in die Bucht. Der Ornithologe stand am Strand. Er trug nichts als seine Unterwäsche. Er hat sich ausgezogen, dachte der Junge, ausgezogen, weil er schwimmen wollte. Jetzt war er nahe daran, diesen Menschen ins Herz zu schließen.