Die Wellen spülten rosige Muscheln aufs Land, die, wenn man sie ans Ohr hielt, rauschten, als sei in ihren Windungen die jahrtausendealte Musik des Meeres eingefangen.
Nachts trompeteten in den Wäldern die Elefanten. Und es sangen die goldenen Gärten des Herrschers. Auf den Marmorstufen standen lanzenbewehrte Wächter.
Ein wunderbares Land! Hier war alles vollkommen, dem Menschen Untertan und dienstbar.
Die Sonne sank dem Horizont entgegen. In den Fichten summte der frühe Abendwind. Vom Ufer fort schwammen gekräuselte Silberstreifen um die Wette. Jurka kletterte den steinigen Hang nach oben, hockte sich nieder.
Auf dem Fluß plätscherten Wellen. Der Wind wurde kräftiger. Er zerpeitschte die Schaumkronen und jagte weiße Knäuel gegen die Strömung. Hinter einer Biegung kam ein Einbaum hervor. Auf dem Boden des Bootes saß mit ausgestreckten Beinen der Hafenmeister. Die Dienstmütze lag auf seinen Knien. Er ließ den Kahn am Ufer treiben, stieß ihn nur von Zeit zu Zeit mit dem Ruder ab. Dann steuerte er auf die Mitte des Flusses zu. Das Wasser klatschte gegen die dünne Wandung. Wo Jurka hockte, hörte es sich an wie Schläge auf eine leere Tonne. Nun sah er auch deutlich, wie aufgewühlt die Tunguska war. Der Einbaum verschwand in ihren Fluten. Jurka hatte den Eindruck, daß der Hafenmeister nicht in einem Boot, sondern auf dem Wasser saß.
Pawel ruderte bis ans andere Ufer, dann wendete er. Die Stellen, wo die Wogen am höchsten gingen, schienen es ihm besonders angetan zu haben. Als die Flußmitte wieder erreicht war, hörte er zu rudern auf, stellte den Einbaum quer und ließ sich stromab treiben, wobei er träge das ins Wasser getauchte Ruder bewegte. Jurka, der sah, wie die Wellen an der Bootswand hochschossen, bekam eine. Gänsehaut. Ihn fröstelte, wenn er sich vorstellte, daß einige Spritzer auf den im Einbaum sitzenden Pawel niederregneten. Etwa eine halbe Stunde spielte der Hafenmeister mit Wasser und Wind. Endlich legte er unterhalb des Platzes, wo Jurka saß, an und kletterte heraus. Er zog seinen Tabaksbeutel hervor, stopfte sich eine Pfeife.
„Guten Tag, Pawel Alexejewitsch", grüßte Jurka leise.
Der Hafenmeister zuckte zusammen, ließ die Streichholzschachtel fallen und drehte sich mit schuldbewußtem Lächeln um. Als er Jurka erkannte, legte sich sein Gesicht in finstere Falten. „Hast du was gesehen?" fragte er mürrisch. Sein Stiefel trat gegen das Boot.
„Freilich", bestätigte Jurka. „Die Wellen sind heute wunderbar."
Pawel warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, pustete die Backen auf, wobei er kräftig schnaubte, und hielt ein Streichholz an die Pfeife. Der Qualm machte ihm zu schaffen. Er zwinkerte, aber sein Tabak wollte nicht brennen, so wütend der Hafenmeister auch an dem Mundstück zog. Eines stand fest: Pawel Alexejewitsch hatte keinen blassen Schimmer vom Rauchen.
„Was sitzt du da eigentlich rum?" brummte er ungnädig.
Jurka sprang auf die Füße und trat näher.
„Bloß so", sagte er. „Weißt du, ich möchte mit dir reden. Atlantis. Kannst du mir etwas über Atlantis verraten?"
„Atlantis?" wiederholte Pawel, dachte eine Weüe nach und meinte: „Ich wette, das ist ein Nachschlagewerk über den Atlantischen Ozean. Ein Buch für den Steuermann. Dort sind alle Riffe verzeichnet und die Strömungen. Natürlich auch die Ephemeriden."
„Ist das ein Land?"
„Ach wo, eine Tafel für die Schiffahrt. Der tägliche Standort von Sonne, Mond und Planeten ist dort eingetragen. Klingt hübsch, der Name, nicht? Trotzdem findest du darauf nichts als Zahlen."
„Nein, dann stimmt es nicht. Atlantis ist ein Land. Weißt du, was für eins? Pawel Alexejewitsch! Wenn du willst, beschreibe ich es dir. Ich habe bis jetzt mit niemand darüber gesprochen. Du bist der erste."
,,Na, dann schieß los", willigte Pawel ein. Und Jurka erzählte.
Nichts wurde vergessen von allem, was er in dem blauen Heft gelesen und selber hinzugesponnen hatte. Zum Schluß schaute er Pawel an in der Erwartung, auf seinem Gesicht Erstaunen und Entzücken zu finden.
„Vielleicht ist es nur eine Geschichte", brummte der Hafenmeister.
„Wieso eine Geschichte!" empörte sich Jurka. Er schrie jetzt fast: „Das ist ein Land, sage ich dir, ein Land, in dem die Sonne fast nie untergeht." „Spaßvogel. Bei uns in der Polarzone scheint die Sonne ein halbes Jahr lang, aber wo gibt's hier Palmen, frage ich dich?"
„Das war ja auch vor langer Zeit", meinte Jurka rechthaberisch. „Jetzt ist das Land im Meer versunken. Und wer sagt überhaupt, daß es in der Nähe des Polarkreises gelegen hat?"
„In dem Heft steht das wohl nicht?"
„Eben nicht."
„Wenn es man nicht doch in unserer Gegend gewesen ist." Pawels Stimme klang belustigt, zugleich aber nachsichtig. Er war der Erwachsene.
Jurka pflegte in solchen Dingen nie zu scherzen. Er übersah sogar das Lächeln, das um Pawels Lippen spielte. „Weißt du was", rief er erfreut aus, „das habe ich auch schon gedacht. Warum soll es eigentlich nicht hier gewesen sein?"
Daß Jurka die Sache so ernst nahm, machte Pawel unsicher.
„Freilich", gab er unerwartet zu. „Paß auf, was ich dir jetzt sage, Jurka. Früher herrschte hier ein anderes Klima. Es gab auch Palmen und Mammuts. Das habe ich gelesen. Und vor noch längerer Zeit war hier Wasser. Wo wir beide in diesem Augenblick stehen, befand sich ein Meer. Sogar ein Ozean war das, na, und in einem Ozean gibt es natürlich auch Inseln. Und weißt du, wer diese Inseln bevölkerte? Affen — das heißt nur am Anfang", verbesserte er sich schnell, da er bemerkte, daß Jurka mißtrauisch aufschaute. „Später kam dann der Mensch. Wie ich gehört habe, hat man in der Tundra, irgendwo im ewigen Frostboden, eine ganze Siedlung gefunden, und im Eis wurde ein Mensch entdeckt, der war eingefroren und viele tausend Jahre alt."
„Ja, und der Stoßzahn — weißt du, in unserer Stadt haben sie doch einen Stoßzahn gefunden", flocht Jurka schnell ein. „Dann diese Elfenbeinfigur, wo bloß der Kopf abgebrochen war."
„Ich erinnere mich", bestätigte Pawel, der fühlte, daß es schon nicht mehr möglich war, das Gespräch ins Scherzhafte zu wenden. Auch konnte er nicht einfach schweigen. Er hätte Jurka tödlich beleidigt und erzählte deshalb munter weiter.
Da erstanden Pompeji und Herkulanum aus ihrer Asche. Vom Boden der Meere erhoben sich die schwerbeladenen spanischen Karavellen. Die Anden schüttelten den Staub der Ruinen ab; peruanische Inkastädte erwachten zu neuem Leben.
Pawel bestritt das Gespräch nicht allein. Vieles hatte er vergessen. Doch wenn er nicht weiter wußte, half Jurka, der sich gleichfalls an mancherlei erinnerte, was er gehört oder gelesen hatte. Zu der Weisheit, die aus Büchern und Vorträgen stammte, traten Bruchstücke aus eigenen Träumen. So stellte sich die Vergangenheit in nie dagewesener Schönheit dar. Die Phantasie malte sie in buntschillernden Farben, als eine unvergängliche Welt aus Gold und Marmor. Aber es war, wie es bei den beiden meistens zu sein pflegte. Sie hatten sich noch längst nicht alles von der Seele geredet, als der Abend anbrach.
„Lauf nach Hause", mahnte Pawel, „sonst setzt es was. Und für mich ist es auch Zeit."
„Es setzt nichts", widersprach Jurka. „Bei uns wird nicht geschlagen. Meine Eltern erziehen mich durch Worte. Das ist aber noch schlimmer. Wenn man seine Prügel weghat, ist alles vergessen. Worte sind schrecklich."
„Ja, das ist wahr", gab Pawel zu. „Mit Worten kannst du einen Menschen sonstwohin treiben. Verrate keinem, daß du mich hier getroffen hast, hörst du."
„Ach wo, uns verstehen sie sowieso nicht", entgegnete Jurka hitzig. „Was wissen die, wie schön es ist zu träumen."
„Da hast du recht", sagte Pawel und seufzte, „für so was haben sie kein Verständnis. Drei Gesuche habe ich schon geschrieben. Aber denkst du, ich komme weg?"
Es war kein Geheimnis, daß Pawel davon träumte, die Welt kennenzulernen. Die Tabakspfeife, das „Handbuch für den Steuermann in der Barentssee", das er auswendig herbeten konnte, und der kleine, auf den Unterarm tätowierte Anker qualifizierten ihn freilich noch nicht zum Seemann. Aber er litt an einer unbändigen Sehnsucht nach dem Meer.