„Was steht eigentlich in deinem Heft?"
Jurka dachte einige Sekunden nach.
„Gut", willigte er dann ein, „ich habe es noch keinem gezeigt. Ihr sollt Bescheid wissen. Vorwärts, zum Fluß."
Aufgeregt und ausgelassen tollten sie durch die Straße, dann weiter am Ufer entlang. Im Bogen flogen die Büchertaschen die Böschung nach unten, sie selber sausten in einer Staubwolke hinterher. Jetzt waren sie keine Schüler mehr. Vor ihnen lag der Sommer.
VI Das Geheimnis der Insel Azoris (Aus dem blauen Heft)
„Im Norden von Atlantis gab es mächtige Berge. Lange nachdem die Sonne dahinter versunken war, leuchteten ihre Gipfel noch in rötlichem Licht, als seien sie glühend, und erloschen nur allmählich. Aber das Gebirge schien dem Land zu drohen. Die Menschen fürchteten sich vor den Bergen, weil sie schweigend und leblos vor ihnen standen. Nur diejenigen, für die unten kein Platz mehr war, wagten sich hinauf, beispielsweise zum Tode Verurteilte, wenn es ihnen gelang zu fliehen. Einst entkamen zwanzig Sklaven, die der Sonne geopfert werden sollten. Für die Bürger von Atlantis war die Sonne ein unersättlicher Gott und der Mond sein Bruder. Jene zwanzig Sklaven aber hatten wenig Lust, zu Ehren der fremden Götter zu sterben. In der Nacht erdrosselten sie ihre beiden Posten und flohen ins Gebirge.
Sie liefen, bis der Morgen graute, höher und höher. Als die Sonne aufging, sahen die Atlantisbürger nur noch zwanzig schwarze Punkte, die an den Felsen zu kleben schienen. Später tauchten die Flüchtlinge im Schnee der Berge auf, ganz winzig schon. Dann verschwanden sie vollends. Keiner nahm die Verfolgung auf, denn es war bekannt, daß von dort niemand zurückkehrte.
Zu Ehren der Sonne aber mußten zwanzig andere Menschen sterben.
In diesem wunderschönen und reichen Land gab es viele Sklaven. Zahlreich war die Nachkommenschaft der ersten Generationen, die den Atlantisbürgern gedient hatten. Manche von denen, die als Sklaven geboren wurden, ahnten nichts von ihrem Schicksal, bis sie herangewachsen waren und ihr Rücken das Brandmal erhielt. Von diesem Zeitpunkt an mußten sie arbeiten wie alle anderen.
Bisweilen brachten die Schiffe neue Sklaven heran: Menschen mit breiten Schultern, mit Haut wie violett gefärbtes Ebenholz und schwarzem Kraushaar oder stolze, goldbraune Riesen mit feuchten, olivförmigen Samtaugen. Die Schwarzhäutigen kamen aus einem Land mit schwülen Wäldern und glühenden Sandwüsten, die Goldbraunen von den Inseln, die hinter der Meerenge im Osten lagen.
Viele der Sklaven waren genauso schlank, muskulös und schön wie die Atlantisbürger. Aber sie mußten in Erdhöhlen vegetieren. Nur den Geschicktesten war es erlaubt, sich Hütten zu bauen. Unter ihnen gab es Waffenschmiede, deren Schwerter mit einem Schlag faustdicke Kupferstangen durchhieben. Weiter wird berichtet von Männern, die beinerne Blumen schnitzten, von Steinmetzen, die riesige Platten so kunstgerecht polierten, daß, wenn man zwei aufeinanderlegte, kein Haar dazwischen Platz hatte, und schließlich von Schmieden, die für sich und ihre Brüder Halsbänder und Ketten schmiedeten.
Da war keiner, der nicht von der Heimat geträumt hätte. Die einen erinnerten sich an sie, die anderen, die in Atlantis geboren wurden, erfuhren von ihr schon aus den Wiegenliedern. Nachts waren die Sklaven frei. Der Traum führte sie weit fort aufs Meer. Sie ruderten an bekannte Ufer. Die Wellen erfaßten ihre Boote und setzten sie auf den heimatlichen Strand. Lange lagen sie im feuchten Sand, genossen den Salzgeruch der Luft, erfreuten sich am Anblick des grünlich blauen Waldsaumes und der Rauchsäulen, die über den Wipfeln der Bäume standen. Dort warteten ihre Hütten. Da erhoben sie sich und wanderten weiter, festen Schritts, ohne ein einziges Mal zurückzuschauen. Sie hatten die Freiheit wiedererlangt.
Am Morgen erschollen die Rufe der Posten. Sie brachten sämtliche Träumer auf die Beine. Alles begann von vorn. Die Sklaven mußten den Boden umwühlen, Steine behauen, in Fellbehältern Wasser tragen. Am Himmel stand unverwandt die Sonne, schaute ihrem Tun teilnahmslos zu und versengte ihnen den Rücken.
Alle schweren Arbeiten wurden von Sklaven verrichtet. Die freien Atlantisbürger taten nur, was leicht war und Freude bereitete. In ihren Liedern priesen sie sich als den weisesten, den größten Volksstamm, der die Erde bewohnte, denn sie glaubten, daß nur ein großes Volk andere Völker unterwerfen kann. Einmal erschien in ihrer Mitte tatsächlich ein wahrhaft großer und weiser Mann, aber er zählte zu den Sklaven.
Er war hier geboren, auf der Insel Azoris, ein schlanker Mensch, mit biegsamem Körper und Muskeln, die härter waren als Elfenbein. Hoch trug er den Kopf, gar nicht, wie es seinem Stande entsprach, so daß ihn sein Herr, ein Priester des Sonnentempels, gewiß nicht ins Haus gelassen hätte, wenn es mit seiner Sehkraft ein wenig besser bestellt gewesen wäre. Denn ein Sklave, der seinem Herrn ins Auge blickt, ist ein schlechter Sklave. Der Priester jedoch war alt, sah schlecht und fand keinen Grund, mit ihm unzufrieden zu sein.
Der Sklave ersetzte ihm Auge und Ohr. Wenn der Priester seine schwach gewordenen Sinne anstrengte, um heilige Schriftzeichen zu malen, stand der Sklave hinter ihm, gehorsam, zu jedem Dienst bereit. Er wurde Zeuge, wie sein Herr mit den anderen Priestern in Streit geriet, aber niemand bemerkte das Lächeln, das um die Lippen des stillen Lauschers huschte, sooft die Priester Unsinn schwatzten. Während der zehn Jahre, die dieser Sklave bei dem Diener des Sonnengottes verbrachte, lernte er mehr, als der Priester in seinem ganzen Leben gelernt hatte.
Er beherrschte zahlreiche Dialekte und entzifferte als erster die Schriftzeichen auf den Steinplatten, die aus einer Zeit stammten, als an die Atlantisbürger noch nicht zu denken war. Ihm gelang es auch, das Geheimnis des steinernen Menschen zu ergründen. Er wußte, weshalb die Gestalt mit der einen Hand zum Himmel wies und die andere zur Erde hielt, als ließe sie etwas durch die Finger rieseln.
So erfuhr er von dem unvermeidlichen Schicksal der Atlantisstädte.
In den alten Schriften las er über das Schicksal verschwundener Völker, der ehemaligen Bewohner dieses Landes. Dreimal hatten sich auf den beiden Inseln Menschen niedergelassen, dreimal war ein Tag gekommen, an dem das Meer zu brodeln begann, die Erde erbebte und gewaltige Wassermassen gegen die Küste rannten. Aus den Bergen hagelte es Steine und Asche. Ein schwarzer, kochendheißer Regen prasselte auf die Erde.
Die Menschen verkrochen sich in ihre Häuser und Höhlen. Die Häuser stürzten ein. In den Höhlen barsten die Gewölbe. Die Natur hatte sich gegen den Menschen erhoben. Sie gehorchte ihm nicht mehr.
Wie die Tafeln berichteten, war von den Bergen ein geflügelter Drache aufgestiegen, um die Sonne zu verdunkeln und den Tag in Nacht zu verwandeln.
Dann rollte eine Woge heran, die den Himmel verdeckte. Sie wälzte sich bis ans Gebirge und riß beim Zurückfluten alles, was sie auf ihrem Wege fand, mit sich fort ins Meer.
Da brachten die Götter, die im Innern der Erde wohnten, vor Zorn die Berge zum Schwanken. Der Boden tat sich auf, stieß feurigen Atem aus. Ganze Inseln mit Städten, Wäldern und allem, was darauf war, versanken im Wasser. Lange währte die Nacht, die Finsternis.
Als es endlich Tag wurde, eilten diejenigen, die am Leben geblieben waren, von Entsetzen gepackt davon. Sie ruderten übers Meer, das des Nachts im Licht zweier Monde lag. Die letzten meißelten vor der Flucht ihre Erlebnisse in steinerne Tafeln. Auch schufen sie ein Standbild des Gottes, dessen Zorn sich über ihnen entladen hatte.
Die Inschriften sprachen davon, daß der Weg nach Westen führte. Aber es stand auch geschrieben, alle, die dieses Land später besiedelten, würde das gleiche Schicksal ereilen.
Als der Sklave dies erfuhr, ergriff ihn derart die Furcht, daß er gegen das Gesetz verstieß und ungefragt seinen Herrn ansprach.