»Ich auch nicht«, sagte Benedict.
»Ich wurde gefangengenommen, und Eric wurde gekrönt. Man zwang mich, der Krönung beizuwohnen, obwohl ich mich eigentlich nicht dazu bereitfinden wollte. Es gelang mir, mich zu krönen, bevor der Bastard – genealogisch gesprochen – das Ding wieder an sich nahm und es sich auf den Kopf setzte. Dann ließ er mich blenden und ins Verlies werfen.«
Benedict beugte sich vor und starrte mir ins Gesicht.
»Ja«, sagte er. »Ich habe davon gehört. Wie hat man es gemacht?«
»Mit glühenden Eisen«, sagte ich und zuckte unwillkürlich zusammen. Ich verspürte den Drang, meine Augen zu berühren. »Ich bin ohnmächtig geworden.«
»Sind die Augäpfel verletzt gewesen?«
»Ja«, sagte ich. »Ich glaube schon.«
»Und wie lange hat die Regeneration gedauert?«
»Es dauerte etwa vier Jahre, bis ich wieder verschwommene Umrisse sehen konnte«, sagte ich. »Und erst jetzt ist die Sehschärfe wieder normal. Alles in allem etwa fünf Jahre, würde ich sagen.«
Er lehnte sich zurück, seufzte und lächelte schwach.
»Gut», sagte er. »Du machst mir Hoffnung. Natürlich haben schon andere von uns Körperteile verloren und eine Regeneration erfahren – doch ich bin bisher noch nie so schlimm verstümmelt worden.« Er hob den Armstumpf.
»O ja«, sagte ich. »Eine eindrucksvolle Serie, die mich immer sehr interessiert hat. Allerlei Kleinigkeiten, sicher nur noch den Beteiligten und mir in Erinnerung: Fingerkuppen, Zehen, Ohrläppchen. Ich würde meinen, daß du wegen deines Arms hoffen darfst. Aber es wird seine Zeit dauern. – Nur gut, daß du Rechts- und Linkshänder bist«, fügte ich hinzu.
Er lächelte unbehaglich und trank von seinem Wein. Nein, er war noch nicht bereit, mir zu sagen, was ihm widerfahren war.
Auch ich griff wieder nach meinem Becher. Ich wollte ihm nichts von Dworkin sagen. Ich hatte Dworkin als eine Art Trumpf im Ärmel behalten wollen. Keiner von uns kannte die volle Macht dieses Mannes, der offensichtlich verrückt war. Doch er war beeinflußbar. Offensichtlich hatte sogar Vater mit der Zeit Angst vor ihm bekommen und ihn einsperren lassen. Was hatte er mir doch in meiner Zelle gesagt? Daß Vater ihn ins Gefängnis geworfen hätte, nachdem er verkündet hatte, ein Mittel zur Vernichtung von ganz Amber gefunden zu haben. Wenn es sich hierbei nicht nur um das Geplapper eines Wahnsinnigen handelte und wenn dies der eigentliche Grund für seinen Aufenthalt in einer Zelle war, dann war Vater großzügiger gewesen, als ich es hätte je sein können. Der Mann war zu gefährlich, um am Leben zu bleiben. Andererseits hatte Vater versucht, ihn von seiner Krankheit zu heilen. Dworkin hatte von Ärzten gesprochen – von Männern, die er verscheucht oder vernichtet hatte, indem er seine Macht gegen sie richtete. Meine Erinnerungen zeigten ihn als klugen, freundlichen alten Mann, Vater und dem Rest der Familie treu ergeben. Es wäre wahrlich schwierig, einen solchen Menschen umzubringen, solange es noch Hoffnung gab. Er war in ein Quartier verbannt worden, das eigentlich als fluchtsicher galt. Doch als er die Sache eines Tages über hatte, war er einfach ins Freie marschiert. Da kein Mensch in Amber durch die Schatten schreiten kann, wo es nun mal keine Schatten gibt, mußte er etwas bewirkt haben, das ich nicht begriff und das mit dem Prinzip hinter den Trümpfen zusammenhing, woraufhin er dann sein Quartier verlassen konnte. Ehe er dorthin zurückkehrte, vermochte ich ihn zu überreden, mir einen ähnlichen Ausgang aus meiner Zelle zu verschaffen, einen Ausgang, der mich zum Leuchtturm von Cabra versetzte, wo ich mich erholte, ehe ich jene Reise antrat, die mich nach Lorraine führte. Wahrscheinlich hatte man seine Umtriebe noch gar nicht entdeckt. Meines Wissens hatte unsere Familie schon immer besondere Kräfte besessen, doch es war an ihm gewesen, sie zu analysieren und ihre Funktionen im Muster und in den Tarockkarten zu formalisieren. Oft hatte er die Sprache auf dieses Thema gebracht, doch den meisten von uns war der Stoff schrecklich abstrakt und langweilig vorgekommen. Wir sind eben eine sehr pragmatische Familie. Brand war der einzige, der offenbar Interesse für diese Dinge aufbrachte. Und Fiona. Das hatte ich fast vergessen. Auch Fiona hörte ihm manchmal zu. Und Vater. Vater besaß erstaunliche Kenntnisse über Dinge, die er niemals erwähnte. Er hatte nie viel Zeit für uns und hatte so viele Seiten, die wir nicht kannten. Doch hinsichtlich der Prinzipien, die hier angewendet wurden, war er vermutlich ebenso kenntnisreich wie Dworkin. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Männern lag in der Anwendung dieser Kenntnisse. Dworkin war ein Künstler. Was Vater war, weiß ich eigentlich nicht. Obwohl er kein unzugänglicher Patriarch war, lud er uns nie zur Aussprache ein. Sobald er uns einmal wahrnahm, war er großzügig mit Geschenken und unterhaltenden Einfallen. Doch unsere Erziehung überließ er Angehörigen seines Hofs. Meinem Gefühl nach tolerierte er uns als gelegentliche unvermeidliche Folgen der Leidenschaft. Im Grunde bin ich einigermaßen überrascht, daß unsere Familie nicht viel größer ist. Wir dreizehn, außerdem zwei Brüder und eine Schwester, die inzwischen tot waren, stellten nahezu fünfzehnhundert Jahre elterlicher Fortpflanzung dar. Da gab es noch einige andere Geschwister lange vor uns, von denen ich hatte sprechen hören und die nicht mehr lebten. Kein sensationelles Ergebnis für ein so lustvolles Familienoberhaupt – allerdings waren wir selbst auch nicht besonders fruchtbar geworden. Wir waren kaum in der Lage, für uns selbst zu sorgen und durch die Schatten zu schreiten, als Vater uns ermutigte, diese Fähigkeiten auszunutzen, uns Orte zu suchen, wo wir glücklich leben konnten, und uns dort niederzulassen. Dies war meine Verbindung zu jenem Avalon, das es heute nicht mehr gibt. Soweit ich weiß, war Vaters Herkunft nur ihm selbst bekannt. In meinem ganzen Leben war ich keinem Menschen begegnet, dessen Gedächtnis in eine Zeit zurückreichte, da es keinen Oberon gegeben hatte. Ist das seltsam? Nicht zu wissen, woher der eigene Vater kommt, nachdem man Jahrhunderte zur Verfügung gehabt hat, die Neugier walten zu lassen? Ja. Aber er war geheimnisvoll, mächtig, schlau – Aspekte, die wir alle zum Teil in uns wiederfanden. Er wollte uns gut versorgen und zufriedenstellen, das spüre ich – doch durften wir nicht so gut gestellt sein, daß wir zur Gefahr für seine Herrschaft werden konnten. In ihm regte sich vermutlich ein Element des Unbehagens, ein nicht unberechtigtes Gefühl der Vorsicht angesichts der Möglichkeit, daß wir zuviel über ihn und die alten Zeiten erfuhren. Ich nehme nicht an, daß er sich jemals eine Periode vorgestellt hatte, da er nicht mehr in Amber herrschen würde. Zwar sprach er von Zeit zu Zeit scherzhaft oder grollend von seiner Abdankung. Doch meinem Gefühl nach stand immer eine kühle Berechnung dahinter, der Wunsch zu sehen, welche Reaktion darauf erfolgte. Er mußte die Situation erkannt haben, die sein Tod hervorrufen würde, weigerte sich aber anzuerkennen, daß es je soweit kommen würde. Und keiner von uns hatte einen Überblick über all seine Pflichten und Verantwortungen, über seine heimlichen Aufgaben. So unangenehm mir dieses Eingeständnis auch war, ich kam langsam zu der Überzeugung, daß keiner von uns wirklich geeignet war, den Thron zu übernehmen. Nur zu gern hätte ich Vater die Schuld an dieser Unfähigkeit zugeschoben, doch leider war ich seit meinem Aufenthalt auf der Schatten-Erde zu gut mit Freud bekannt, um nicht einen Teil der Schuld auch bei mir zu suchen. Außerdem kamen mir Zweifel über die Gültigkeit unserer Ansprüche. Wenn es keine Abdankung gegeben hatte und er tatsächlich noch lebte, konnte einer von uns bestenfalls auf eine Regentschaft hoffen. Es wäre sicher kein angenehmer Augenblick – und schon gar nicht, wenn man auf dem Thron saß
–, ihn in eine andere Situation zurückkehren zu sehen. Sagen wir es ganz offen – ich hatte Angst vor ihm, und das nicht ohne Grund. Nur ein Dummkopf hat keine Angst vor einer realen Macht, die er nicht versteht. Doch ob es nun um den Königstitel oder die Regentschaft ging, mein Anspruch war fundierter als der von Eric, und ich war noch immer entschlossen, ihn durchzusetzen. Wenn eine Macht aus Vaters düsterer Vergangenheit, die keiner von uns wirklich verstand, mir helfen konnte, diesen Anspruch zu sichern, und wenn Dworkin eine solche Macht war, dann mußte er im verborgenen bleiben, bis ich ihn zu meinen Gunsten einsetzen konnte.