Galt das aber auch, wenn die von ihm vertretene Macht die Fähigkeit war, ganz Amber zu vernichten – und damit sämtliche Schatten-Welten, das gesamte Universum, wie ich es kannte?
Dann besonders, gab ich mir zur Antwort. Denn wem sonst konnte man eine solche Macht anvertrauen?
Wir sind wirklich eine sehr pragmatische Familie.
Ich trank mehr Wein, dann fummelte ich an meiner Pfeife herum, säuberte sie, stopfte sie von neuem.
»In den Grundzügen ist das meine Geschichte bis heute«, sagte ich, stand auf und holte mir Feuer von der Lampe. »Als ich wieder sehen konnte, gelang mir die Flucht aus Amber. Ich trieb mich eine Zeitlang in einem Land namens Lorraine herum, wo ich Ganelon kennenlernte, dann kam ich hierher.«
»Warum?«
Ich nahm Platz und sah ihn an.
»Weil dieser Ort dem Avalon nahe ist, das mir einmal am Herzen lag«, sagte ich.
Ich hatte absichtlich nicht erwähnt, daß ich Ganelon von früher kannte, und hoffte, daß mein Begleiter sich entsprechend verhielt. Dieser Schatten war unserem Avalon nahe genug, daß sich Ganelon in der Landschaft und mit den meisten Lebensgewohnheiten auskennen mußte. Was immer ich daraus gewinnen mochte, mir schien es jedenfalls geraten, Benedict diese Information vorzuenthalten.
Er ging darüber hinweg, wie ich es erwartet hatte, stand dieser Aspekt doch im Schatten interessanterer Details.
»Und deine Flucht?« fragte er. »Wie hast du das geschafft?«
»Mir wurde bei meiner Flucht aus der Zelle natürlich geholfen. Als ich erst einmal draußen war . . . Nun, es gibt noch einige Passagen, die Eric nicht kennt.«
»Ich verstehe«, sagte er verständnisvoll nickend – natürlich in der Hoffnung, ich würde nun die Namen meiner Helfer nennen, doch klug genug, um nicht offen danach zu fragen.
Ich zog an meiner Pfeife und lehnte mich lächelnd zurück.
»Es ist angenehm, Freunde zu haben«, sagte er, als stimme er Gedanken zu, die mir jetzt durch den Kopf gehen mochten.
»Wir alle dürften ein paar Freunde in Amber haben.«
»Das bilde ich mir jedenfalls ein«, sagte er und fuhr fort: »Wie ich gehört habe, hast du die zum Teil angekratzte Zellentür verriegelt zurückgelassen, nachdem du deine Bettstatt angezündet hattest. Außerdem hast du Bilder an die Wand gemalt.«
»Ja«, sagte ich. »Das lange Eingesperrtsein bleibt nicht ohne Einfluß auf den Geist. Ich bekam die Folgen jedenfalls sehr zu spüren. Ich machte lange Perioden durch, in denen ich nicht ganz bei Verstand war.«
»Ich beneide dich nicht um diese Erfahrung, Bruder«, sagte er. »Ganz und gar nicht. Was hast du jetzt für Pläne?«
»Die sind noch ungewiß.«
»Verspürst du vielleicht den Wunsch, hierzubleiben?«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete ich. »Wie stehen die Dinge hier?«
»Ich habe die Führung«, sagte er – eine einfache Feststellung, keine Prahlerei. »Ich glaube, es ist mir soeben gelungen, die einzige wirkliche Gefahr für das Territorium zu beseitigen. Wenn ich recht habe, steht uns eine einigermaßen ruhige Zeit bevor. Der Preis war hoch« – er deutete auf seinen Armstumpf –, »aber der Einsatz hat sich gelohnt, wie sich bald erweisen wird, wenn das Leben wieder in seine normalen Bahnen zurückkehrt.«
Er beschrieb mir eine Situation, die in den Grundzügen mit der Schilderung des jungen Soldaten übereinstimmte. Sein Bericht gipfelte in dem Sieg über die höllischen Frauen. Die Anführerin war umgekommen, ihre Reiter waren geflohen und auf der Flucht getötet worden. Das Höhlensystem war von neuem verschlossen worden. Benedict hatte sich vorgenommen, eine kleine Streitmacht im Feld zu belassen, um jedes Risiko auszuschließen, während seine Kundschafter die Gegend nach Überlebenden absuchten.
Von seiner Zusammenkunft mit Lintra, der gegnerischen Anführerin, sprach er nicht.
»Wer hat die Anführerin getötet?« wollte ich wissen.
»Das ist mir gelungen«, sagte er und machte eine heftige Bewegung mit dem Armstumpf. »Allerdings habe ich beim ersten Hieb ein wenig zu lange gezögert.«
Ich wandte den Blick ab. Ganelon tat es mir nach. Als ich meinen Bruder wieder ansah, hatte sich sein Gesicht beruhigt, und der verstümmelte Arm hing wieder an seiner Seite herab.
»Wir hatten nach dir gesucht. Wußtest du das, Corwin?« fragte er. »Brand suchte in vielen Schatten nach dir, ebenso Gérard. Du hattest recht mit deiner Vermutung über die Äußerungen, die Eric am Tag nach deinem Verschwinden machte. Doch wir waren nicht geneigt, sein Wort ohne weiteres hinzunehmen. Wiederholt bemühten wir deine Trumpfkarte, doch es kam keine Antwort. Offensichtlich kann ein Gehirnschaden den Trumpf blockieren. Eine interessante Vorstellung. Die mangelnde Reaktion auf den Trumpf führte uns schließlich zu der Überzeugung, daß du umgekommen wärst. Dann schlossen sich Julian, Caine und Random der Suche an.«
»Ihr alle? Wirklich? Ich bin erstaunt!«
Er lächelte.
»Oh«, sagte ich und mußte ebenfalls lächeln.
Ihr Mitmachen bei der Suche bedeutete, daß es ihnen nicht um mein Wohl gegangen war, sondern um die Möglichkeit, Beweise für einen Brudermord zu finden, Beweise, mit denen Eric entmachtet oder erpreßt werden konnte.
»Ich habe in der Nähe Avalons nach dir gesucht«, fuhr Benedict fort. »Und da fand ich diesen Ort und blieb hier hängen. Er war damals in einem jämmerlichen Zustand, und generationenlang mühte ich mich, dem Land wieder zu seiner früheren Pracht zu verhelfen. Während ich die Arbeit im Gedenken an dich begann, entwickelte sich in mir mit der Zeit eine Zuneigung zu dem Land und seinem Volk. Die Menschen hier sahen mich bald als ihren Protektor an – und ich mich ebenfalls.«
Seine Worte beunruhigten und rührten mich zugleich. Wollte er sagen, ich hätte die Sache hier vermasselt, und er habe sich ins Geschirr gelegt, um alles wieder in Ordnung zu bringen – gewissermaßen als Aufräumaktion für den jüngeren Bruder? Oder wollte er mir mitteilen, er habe erkannt, daß ich diese – oder eine ihr sehr ähnlich sehende – Welt geliebt hatte, und er habe für Ruhe und Ordnung gesorgt, um damit sozusagen meine Wünsche zu erfüllen? Vielleicht war ich nun doch etwas zu empfindlich.
»Es ist ein angenehmes Gefühl, zu wissen, daß man mich gesucht hat«, sagte ich, »und daß du das Land hier beschützt. Ich würde mir diesen Ort gern einmal ansehen – denn er erinnert mich tatsächlich an das Avalon von früher. Hättest du etwas gegen einen Besuch einzuwenden?«
»Ist das alles, was du möchtest? Einen Besuch machen?«
»Mehr hatte ich nicht im Sinn.«
»Dann solltest du dir klarmachen, daß die hiesige Meinung über den Schatten deiner selbst, der einmal hier geherrscht hat, nicht besonders gut ist. In dieser Welt erhält kein Kind den Namen Corwin, auch trete ich nicht als Corwins Bruder auf.«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Mein Name ist Corey. Können wir alte Freunde sein?«
Er nickte.
»Alte Freunde sind hier immer gern gesehen«, sagte er.
Ich lächelte und nickte. Ich war gekränkt über seine Vorstellung, daß ich womöglich Absichten auf diesen Schatten eines Schatten hätte – ich, der ich das kalte Feuer der Amber-Krone auf meiner Stirn gespürt hatte, wenn auch nur eine Sekunde lang.
Ich überlegte, wie er sich verhalten würde, wenn er von meiner eigentlichen Schuld an diesen Überfällen erfuhr. So gesehen, war ich vermutlich auch am Verlust seines Arms schuld. Doch ich zog es vor, die Situation noch um einen Schritt zurückzustufen und Eric als Gesamtverantwortlichen zu sehen. Schließlich war es sein Vorgehen, das meinen Fluch ausgelöst hatte.
Trotzdem hoffte ich, daß Benedict niemals die Wahrheit erfuhr.
Ich hätte zu gern gewußt, wie er zu Eric stand. Würde er ihn unterstützen oder sich hinter mich stellen oder sich aus der Sache ganz heraushalten, wenn ich zu handeln begann? Er seinerseits fragte sich bestimmt, ob mein Ehrgeiz erloschen war oder noch immer glomm – und was ich, wenn ich noch Pläne hatte, zu unternehmen gedachte. Also . . .