»Ihr habt meine Neugier geweckt.«
»Sir Corey, wenn Ihr nichts davon wißt, wäre es besser für Euch, wenn Ihr meine Worte schnell wieder vergeßt, um den Kreis einen Bogen macht und Eures Weges zieht. Zwar täte ich nichts lieber, als an Eurer Seite zu fechten, doch dies ist nicht Euer Kampf – und wer vermag zu sagen, wie die Auseinandersetzung endet?«
Der Weg begann sich hangaufwärts zu winden. Durch eine Lücke zwischen den Bäumen sah ich plötzlich eine ferne Erscheinung, die mich stocken ließ und meine Erinnerung auf einen anderen ähnlichen Ort richtete.
»Was . . .?« fragte mein Schützling und drehte sich um. Dann rief er aus: »Ihr seid ja viel schneller vorangekommen, als ich ahnte! Das ist unser Ziel, die Burg von Ganelon!«
Und da dachte ich an Ganelon, an einen Ganelon. Ich sehnte diese Gedanken nicht herbei, doch ich konnte nichts dagegen tun. Er war ein gemeiner Mörder und Verräter gewesen, und ich hatte ihn vor vielen Jahrhunderten aus Avalon verstoßen. Ich hatte ihn durch die Schatten in eine andere Zeit und an einen anderen Ort verbannt, so wie es mein Bruder Eric später mit mir getan hatte. Ich hoffte, daß ich ihn nicht gerade hier abgesetzt hatte. Das war zwar nicht anzunehmen, doch immerhin möglich. Zwar war er ein Sterblicher mit begrenzter Lebensspanne, und ich hatte ihn vor etwa sechshundert Jahren aus jenem Reich verbannt, doch schien es möglich, daß nach den Gegebenheiten dieser Welt erst wenige Jahre vergangen waren. Auch die Zeit ist eine Funktion der Schatten, und selbst Dworkin kannte sich nicht hundertprozentig damit aus. Vielleicht aber doch. Vielleicht war er gerade deswegen wahnsinnig geworden. Das größte Problem mit der Zeit ist meiner Erfahrung nach die Notwendigkeit, sie zu durchleben. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, daß dieser Mann nicht mein alter Feind und früherer Vertrauter sein konnte, denn der hätte sich zweifellos keiner Woge der Schlechtigkeit widersetzt, die sich über das Land auszubreiten drohte. Jener Mann wäre mitten in den Kreis vorgedrungen und hätte sich mit den widerlichen Ungeheuern verbündet, davon war ich überzeugt.
Probleme bereitete mir auch der Mann, den ich in den Armen hielt. Sein Doppelgänger hatte zur Zeit meines Exilspruchs in Avalon gelebt – und dieser Umstand deutet darauf hin, daß der Zeitsprung so ziemlich stimmen konnte.
Ich hatte keine Lust, jenem Ganelon gegenüberzutreten, den ich aus früherer Zeit kannte, und womöglich von ihm erkannt zu werden. Er wußte nichts von den Schatten. Sein Wissen beschränkte sich auf die Erkenntnis, daß ich ihn mit Schwarzer Magie beeinflußt hatte, als Alternative zur Hinrichtung – und obwohl er diese Alternative überlebt hatte, mochte der Weg für ihn schlimmer gewesen sein als der schnelle Tod.
Doch der Mann in meinen Armen brauchte eine sichere Bettstatt und Ruhe; ich stolperte also weiter. Meine Gedanken kreisten allerdings immer wieder um die große Frage.
Ich schien etwas an mir zu haben, das dem Verwundeten vage bekannt vorkam. Wenn es an diesem Ort, der Avalon zugleich ähnelte und nicht ähnelte, Erinnerungen an einen Schatten meiner selbst gab – welche Form hatten diese Erinnerungen? Zu welchem Empfang des tatsächlichen Corwin würden sie führen, sollte meine Identität wirklich enthüllt werden?
Die Sonne begann unterzugehen. Ein kühler Wind machte sich bemerkbar, Vorbote einer kühlen Nacht. Da mein Schützling wieder zu schnarchen begonnen hatte, beschloß ich den Rest der Strecke im Laufschritt zurückzulegen. Mir mißfiel der Gedanke, daß es in diesem Wald nach Einbruch der Dunkelheit von den scheußlichen Bewohnern eines Kreises wimmeln mochte, von dem ich nichts wußte, die sich aber von ihrer unangenehmsten Seite zeigten, wenn man sich in diese Gegend verirrte.
So hastete ich durch die länger werdenden Schatten und versuchte das aufsteigende Gefühl abzuschütteln, daß ich verfolgt, in einen Hinterhalt gelockt, beobachtet würde – bis es nicht mehr ging. Das Gefühl schwoll zur Stärke einer Vorahnung an, und plötzlich vernahm ich die Geräusche hinter mir – ein leises Pat-pat-pat, wie Schritte.
Ich setzte die Bahre ab und zog im Umdrehen meine Klinge.
Sie waren zu zweit – Katzen.
Ihre Fellzeichnung erinnerte mich an Siamkatzen; die Tiere hatten allerdings die Größe von Tigern. Die Augen waren durchgehend hellgelb und zeigten keine Pupillen. Als ich mich umwandte, hockten sich die Geschöpfe hin und starrten mich ohne zu blinzeln an.
Sie waren etwa dreißig Schritte von mir entfernt. Mit erhobener Klinge stand ich seitlich zwischen ihnen und der Bahre.
Im nächsten Augenblick öffnete das Wesen links das Maul. Ich wußte nicht, ob ich mich auf ein Schnurren oder ein Brüllen gefaßt machen sollte.
Statt dessen waren Worte zu hören: »Mensch, höchst sterblich«, sagte es. Die Stimme hatte nichts Menschenähnliches. Sie klang zu schrill.
»Aber es lebt noch«, sagte das zweite Geschöpf in einem ähnlichen Tonfall.
»Töten wir es hier«, meinte die erste Katze.
»Was ist mit dem, der es mit der bösen Klinge bewacht?«
»Sterblicher Mensch?«
»Kommt, verschafft euch Gewißheit«, sagte ich leise.
»Es ist dünn und vielleicht alt.«
»Aber es hat den anderen vom Grab an diesen Ort getragen, schnell und ohne Rast. Wir wollen es umzingeln.«
Als sich die beiden Geschöpfe in Bewegung setzten, sprang ich vor, und das Wesen zu meiner Rechten kam auf mich zu.
Meine Klinge spaltete ihm den Schädel und bohrte sich bis tief in die Schulter. Als ich meine Waffe freizerrte und kehrtmachte, huschte die andere Katze an mir vorbei. Ihr Ziel war die Bahre. Mit einer heftigen Bewegung schwang ich die Waffe.
Die Schneide traf den Rücken und fuhr durch den ganzen Körper. Das Wesen stieß einen Schrei aus, der an das schrille Quietschen von Kreide über eine Tafel erinnerte, und stürzte, in zwei Teile gespalten, zu Boden. Dort begann es augenblicklich zu brennen.
Das andere Wesen loderte ebenfalls.
Das Geschöpf, das ich halbiert hatte, lebte allerdings noch. Der Kopf wandte sich in meine Richtung, und die funkelnden Augen begegneten meinem Blick und ließen ihn nicht los.
»Ich sterbe den letzten Tod«, sagte die Kreatur, »und so erkenne ich dich, Wegbereiter. Warum tötest du uns?«
Und im nächsten Augenblick hüllten die Flammen auch den Kopf ein.
Ich machte kehrt, reinigte meine Klinge und steckte sie wieder in die Scheide, nahm die Bahre auf die Arme, ignorierte alle Fragen und setzte meinen Weg fort.
Eine erste Erkenntnis hatte sich in mir gebildet, eine Erkenntnis darüber, was das Ding war, was es gemeint hatte.
Und noch heute sehe ich den brennenden Katzenkopf zuweilen in meinen Träumen, und dann erwache ich schweißgebadet und zitternd, und die Nacht kommt mir viel dunkler vor und scheint von Gestalten zu wimmeln, die ich nicht zu definieren vermag.
Die Burg von Ganelon stand im Schutze eines tiefen Grabens und verfügte über eine Zugbrücke, die im Augenblick angehoben war. An den vier Ecken, wo die hohen Mauern zusammenstießen, erhob sich je ein gewaltiger Turm. Hinter den Mauern ragten andere Türme viel höher empor, schienen den Bauch der tiefhängenden dunklen Wolken aufzuschlitzen, welche die ersten frühen Sterne verhüllten und pechschwarze Schatten über den Hügel warfen. In mehreren Türmen zeigte sich bereits Licht, und der Wind wehte leises Stimmengemurmel herüber.
Ich stand vor der Zugbrücke, setzte meine Last ab, legte die Hände um den Mund und rief: »Holla! Ganelon! Zwei Reisende ohne Unterkunft in der Nacht!«
Ich hörte Metall auf Stein prallen und hatte das Gefühl, von oben gemustert zu werden. Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich empor, doch mein Sehvermögen ließ noch viel zu wünschen übrig.
»Wer ist da?« tönte die laute, dröhnende Stimme.
»Lance, der verwundet ist, und ich, Corey von Cabra, der ihn hierhergetragen hat.«
Ich wartete, während er die Information einem anderen Wächter zurief, und hörte den Klang anderer Stimmen, die die Botschaft weitergaben ins Innere der Burg.