Wir erreichten eine baufällige Brücke, die über ein ausgetrocknetes Flußbett führte. Am gegenüberliegenden Ufer war die Straße glatter und weniger gelb. Im Laufe der nächsten Stunde wurde sie noch dunkler, flacher, härter, und das Gras am Rain nahm eine frische grüne Farbe an.
Doch inzwischen hatte es zu regnen begonnen.
Ich kämpfte eine Zeitlang dagegen an, entschlossen, mein Gras und die dunkle, leichte Straße nicht aufzugeben. Der Kopf begann mir zu schmerzen, doch der Schauer endete eine Viertelmeile später, und die Sonne ließ sich wieder blicken.
Die Sonne . . . o ja, die Sonne.
Wir ratterten weiter und kamen in ein kühles Tal, in dem wir schließlich eine weitere schmale Brücke überquerten. Diesmal zog sich in der Mitte des Flußbetts ein schmaler Wasserlauf hin. Längst hatte ich mir die Zügel um die Handgelenke gebunden, da ich immer wieder für kurze Perioden einschlief. Wie aus großer Entfernung kommend, begann ich mich zu konzentrieren, richtete mich auf, ordnete meine Eindrücke . . .
Aus dem Wald zu meiner Rechten erkundeten die Vögel zögernd den Tag. Tautropfen hingen schimmernd an den Grashalmen, den Blättern. Ein kuhler Hauch machte sich in der Luft bemerkbar, und die Strahlen der Morgensonne fielen schräg zwischen den Bäumen hindurch.
Doch mein Körper ließ sich durch das Erwachen dieses Schattens nicht täuschen, und ich war erleichtert, als sich Ganelon endlich hinter mir reckte und zu fluchen begann. Wäre er nicht bald zu sich gekommen, hätte ich ihn wohl wecken müssen.
Ich hatte genug. Vorsichtig zupfte ich an den Zügeln. Die Pferde begriffen, was ich wollte, und blieben stehen. Ich leierte und zog die Bremse fest, da wir uns auf einer Steigung fanden, und griff nach der Wasserflasche.
»He!« sagte Ganelon, während ich trank. »Laßt mir auch einen Tropfen!«
Ich reichte ihm die Flasche nach hinten.
»Jetzt fahrt Ihr weiter«, sagte ich. »Ich muß schlafen.«
Er trank eine halbe Minute lang und atmete heftig aus.
»Gut«, sagte er, schwang sich über das Wagenbord auf die Straße. »Aber bitte noch einen Augenblick Geduld. Die Natur fordert ihr Recht.«
Er verließ die Straße, und ich kroch nach hinten auf die Ladefläche und streckte mich dort aus, wo er eben noch gelegen hatte. Den Mantel faltete ich mir zu einem Kissen zusammen.
Gleich darauf hörte ich ihn auf den Bock steigen, und es gab einen Ruck, als er die Bremse löste. Ich hörte, wie er mit der Zunge schnalzte und die Zügel aufklatschen ließ.
»Haben wir Morgen?« rief er mir zu.
»Ja.«
»Gut! Dann habe ich ja den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch geschlafen!«
Ich lachte leise.
»Nein – ich habe ein bißchen an den Schatten herumgeschoben«, sagte ich. »Ihr habt nur sechs oder sieben Stunden geruht.«
»Das verstehe ich nicht. Aber egal – ich glaube Euch. Wo sind wir jetzt?«
»Wir fahren noch immer nach Nordosten«, antwortete ich, »und stehen etwa zwanzig Meilen vor der Stadt und vielleicht ein Dutzend Meilen von Benedicts Haus entfernt. Gleichzeitig haben wir uns quer durch die Schatten bewegt.«
»Was soll ich jetzt tun?«
»Folgt der Straße, weiter nichts. Wir brauchen die Entfernung.«
»Könnte uns Benedict noch einholen?«
»Ich glaube ja. Deshalb dürfen wir die Pferde noch nicht ausruhen lassen.«
»Na schön. Soll ich nach etwas Bestimmtem Ausschau halten?«
»Nein.«
»Wann soll ich Euch wecken?«
»Nie.«
Da schwieg er, und während ich darauf wartete, daß mein Bewußtsein aufgesaugt würde, dachte ich natürlich an Dara. Schon während des Tages waren meine Gedanken immer wieder zu ihr gewandert.
Die Erkenntnis war ganz überraschend gekommen. Ich hatte sie nicht als Frau gesehen, bis sie sich in meine Arme sinken ließ und meinen Gedanken in diesem Punkt eine neue Richtung gab. Ich konnte nicht einmal den Alkohol dafür verantwortlich machen, da ich gar nicht viel getrunken hatte. Warum wollte ich die Schuld überhaupt woanders suchen? Weil ich mir irgendwie schuldbewußt vorkam – deswegen. Sie war zu weitläufig mit mir verwandt, als daß ich sie mir wirklich als Familienmitglied vorstellen konnte. Und das war auch nicht der springende Punkt. Ich hatte außerdem nicht das Gefühl, die Situation ausgenutzt zu haben, denn als sie mich suchen kam, wußte sie durchaus, was sie tat. Es waren vielmehr die Umstände, die Zweifel an meinen Motiven aufkommen ließen. Als ich sie kennenlernte und auf den Spaziergang durch die Schatten führte, hatte ich mehr erringen wollen als ihr Vertrauen und ihre Freundschaft. Ich versuchte einen Teil ihrer Treue, ihres Vertrauens, ihrer Zuneigung von Benedict auf mich zu lenken. Ich hatte sie auf meiner Seite sehen wollen, als eine mögliche Verbündete in diesem Haus, das schnell zum feindlichen Lager werden konnte. Ich hatte gehofft, sie im Notfall ausnützen zu können. All dies stimmte. Doch ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß ich sie auf jene Weise besessen hatte, nur um diesen Zielen näherzukommen, als Mittel zum Zweck. Vielleicht aber doch – allerdings nicht nur. Jedenfalls machte mich diese Erkenntnis unruhig und weckte das Gefühl, niederträchtig gehandelt zu haben. Warum? Ich hatte in meinem Leben viele Dinge getan, die objektiv betrachtet viel schlimmer waren – und diese Dinge machten mir nicht sonderlich zu schaffen. Ich kämpfte mit mir und rang mich nur mühsam zu der Antwort durch, an der kein Weg vorbeiführte. Mir lag an dem Mädchen – ganz einfach. Mein Gefühl war etwas anderes als die Freundschaft, die mich mit Lorraine verbunden hatte, eine Freundschaft mit einem Hauch weltmüden Einvernehmens zwischen zwei Veteranen; auch unterschied sich mein Empfinden von der beiläufigen Sinnlichkeit, die kurz zwischen mir und Moire aufgeflackert war, ehe ich zum zweitenmal durch das Muster schritt. Dieses Gefühl war ganz anders. Ich kannte Dara erst so kurze Zeit, daß es mir fast unlogisch vorkam. Ich war ein Mann, der Jahrhunderte und Dutzende von Frauen hinter sich hatte. Und doch . . . hatte ich seit Jahrhunderten nicht mehr so empfunden. Ich hatte dieses Gefühl vergessen – bis es sich jetzt wieder regte. Ich wollte mich nicht in sie verlieben. Noch nicht. Vielleicht später. Am besten überhaupt nicht. Sie war nicht die richtige für mich. Im Grunde war sie noch ein Kind. Alles, was sie sich wünschte, alles, was sie neu und faszinierend fand, hatte ich irgendwann bereits getan. Nein, unsere Verbindung stimmte nicht. Es war nicht richtig, mich in sie zu verlieben. Ich hätte es eigentlich nicht dazu kommen lassen dürfen . . .
Ganelon summte eine freche Melodie vor sich hin. Der Wagen hüpfte und knirschte, wandte sich bergauf. Die Sonne strahlte mir ins Gesicht, und ich bedeckte das Gesicht mit dem Unterarm. Irgendwo in dieser Gegend griff endlich die Bewußtlosigkeit zu und zog ihre Decke über mich.
Als ich erwachte, war die Mittagsstunde vorbei, und ich fühlte mich wie gerädert. Ich nahm einen großen Schluck aus der Flasche, schüttete mir etwas in die Handfläche und rieb mir damit die Augen aus, fuhr mir mit den Fingern durch die Haare. Dann sah ich mir die Umgebung an. Viel Grün erstreckte sich auf allen Seiten, kleine Baumgruppen und offene Flächen mit hohem Gras. Wir fuhren auf einem Lehmweg dahin, der hier allerdings ziemlich fest und glatt war. Der Himmel war bis auf einige Wolken klar; Licht und Schatten wechselten in ziemlich regelmäßigen Abständen. Ein leichter Wind wehte.
»Weilt Ihr wieder unter den Lebenden? Gut!« sagte Ganelon, als ich über die Trennwand nach vorn kletterte und mich neben ihn setzte . . .
»Die Pferde werden langsam müde, Corwin, und ich möchte mir gern etwas die Beine vertreten«, sagte er. »Außerdem bin ich sehr hungrig. Ihr nicht auch?«
»Ja. Haltet dort vorn links im Schatten. Wir wollen ein Weilchen rasten.«