»Ich möchte aber gern noch ein Stück weiterfahren«, sagte er.
»Hat das einen besonderen Grund?«
»Ja. Ich möchte Euch etwas zeigen.«
»Na schön.«
Wir fuhren vielleicht eine halbe Meile weiter und erreichten schließlich eine Kurve, die uns ein wenig mehr nach Norden führte. Nach kurzer Zeit kamen wir an einen Hügel, von dessen Gipfel aus wir eine weitere Anhöhe erblickten, die sich noch höher emporschwang.
»Wie weit wollt Ihr denn noch fahren?« fragte ich.
»Bis auf den nächsten Hügel«, erwiderte er. »Vielleicht können wir es von dort ausmachen.«
»Na gut.«
Die Pferde mühten sich mit der Steigung des zweiten Hügels, und ich stieg aus und half von hinten nach. Als wir den Gipfel endlich erreichten, zügelte Ganelon die Pferde und zog die Bremse fest. Er stieg auf die Ladefläche des. Wagens und stellte sich auf eine Kiste. Nach links blickend, legte er die Hand über die Augen.
»Kommt doch einmal herauf, Corwin!« rief er.
Ich kletterte über die hintere Klappe, und er hockte sich hin und streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie, und er half mir auf die Kiste. Ich folgte seinem erhobenen Finger mit den Blicken.
Etwa eine dreiviertel Meile entfernt verlief von links nach rechts, soweit ich schauen konnte, ein breiter schwarzer Streifen. Wir befanden uns mehrere Meter höher als die Erscheinung und vermochten sie etwa eine halbe Meile weit gut zu überschauen. Der Durchmesser betrug mehrere hundert Fuß und schien konstant zu bleiben, obwohl sich der Streifen auf der Strecke, die wir einsehen konnten, zweimal drehte und wendete. In der Erscheinung standen Bäume – allerdings völlig schwarz. Auf dem Streifen schien Bewegung zu herrschen, doch ich vermochte nicht zu sagen, was dort geschah. Vielleicht war es nur der Wind, der das schwarze Gras am Rand bewegte. Doch in der ganzen Erscheinung schien sich zugleich etwas zu regen, dahinzufließen – wie Strömungen in einem flachen, dunklen Fluß.
»Was ist das?« fragte ich.
»Ich hoffte, daß Ihr mir das sagen könntet«, erwiderte Ganelon. »Ich nahm an, daß es vielleicht zu Eurem Schatten-Zauber gehört.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich war ziemlich schläfrig, doch ich würde mich erinnern, wenn ich so etwas Seltsames eingefädelt hätte. Woher habt Ihr gewußt, daß das Ding hier sein würde?«
»Während Ihr schlieft, sind wir dem Streifen schon mehrmals nahe gekommen und haben uns wieder von ihm entfernt. Ich mag die Aura nicht, die davon ausgeht – ein allzu vertrautes Gefühl. Erinnert Euch das nicht an etwas?«
»Ja, allerdings. Leider.«
Er nickte. »Dieses Ding fühlt sich an wie der verdammte Kreis in Lorraine. Ja, dem ist es sehr ähnlich.«
»Die schwarze Straße . . .« sagte ich.
»Was?«
»Die schwarze Straße«, wiederholte ich. »Ich wußte nicht, was sie meinte, als sie davon sprach, aber jetzt beginne ich zu verstehen. Dies ist leider keine angenehme Entdeckung.«
»Ein anderes schlechtes Vorzeichen?«
»Ich fürchte ja.«
Er fluchte. »Wird es uns sofort Ärger machen?«
»Ich glaube nicht, aber genau kann man das nie wissen.«
Er stieg von der Kiste, und ich folgte ihm.
»Wir wollen die Pferde grasen lassen«, sagte er, »und dann unsere Mägen versorgen.«
»Ja.«
Wir gingen nach vorn, und er nahm die Zügel. Am Fuße des Hügels fanden wir eine gute Stelle zur Rast.
Wir verweilten dort fast eine Stunde lang. Die schwarze Straße erwähnten wir nicht, obwohl ich mich in Gedanken sehr damit beschäftigte. Natürlich mußte ich mir das Ding noch näher ansehen.
Als wir zur Weiterfahrt bereit waren, übernahm ich wieder die Zügel. Die Pferde, die sich etwas erholt hatten, zogen energisch an.
Ganelon saß links von mir und war noch immer ziemlich gesprächig. Erst mit der Zeit ging mir auf, wieviel ihm seine seltsame Rückkehr bedeutet hatte. Er hatte viele Orte besucht, die ihm aus der Zeit seines Räuberlebens bekannt waren, außerdem Schlachtfelder, auf denen er sich in seiner ehrbaren Zeit ausgezeichnet hatte. Seine Erinnerungen rührten mich in mancher Hinsicht. Eine ungewöhnliche Mischung von Gold und Ton war dieser Mann. Er hätte ein Angehöriger Ambers sein sollen.
Die Meilen glitten schnell vorbei, und wir kamen allmählich der schwarzen Straße näher, als ich plötzlich einen vertrauten Stich im Kopf verspürte.
Ich reichte Ganelon die Zügel.
»Nehmt!« sagte ich. »Fahrt weiter!«
»Was ist?«
»Später! Fahrt!«
»Soll ich die Pferde antreiben?«
»Nein. Fahrt ganz normal weiter. Seid mal ein paar Minuten still.«
Ich schloß die Augen, stemmte den Kopf in die Hände, leerte meinen Geist und errichtete eine Mauer um die entstehende Leere. Der Ansturm ließ nach und setzte erneut mit voller Macht ein. Ich blockierte ihn ein zweitesmal. Es folgte eine dritte Welle, die ich ebenfalls stoppte. Dann war es vorbei.
Ich seufzte und massierte mir die Augen.
»Alles in Ordnung«, sagte ich.
»Was war los?«
»Jemand versuchte sich auf einem ganz besonderen Wege mit mir in Verbindung zu setzen. Mit ziemlicher Sicherheit war es Benedict. Offenbar hat er eben ein paar Dinge herausgefunden, die ihm den Wunsch eingeben könnten, uns aufzuhalten. Ich übernehme wieder die Zügel. Ich fürchte, daß er uns bald auf der Spur sein wird.«
Ganelon überließ mir die Führung des Wagens.
»Wie stehen unsere Chancen?«
»Mittlerweile nicht schlecht, würde ich sagen. Wir haben immerhin schon ein hübsches Stück zurückgelegt. Sobald das Schwindelgefühl in meinem Kopf aufgehört hat, mische ich noch ein paar Schatten durcheinander.«
Ich steuerte den Wagen, und der Weg wand sich hierhin und dorthin, verlief eine Zeitlang parallel zu der schwarzen Straße und rückte schließlich näher heran. Wir waren nur noch wenige hundert Meter von ihr entfernt.
Ganelon betrachtete die Erscheinung stumm und sagte schließlich: »Das Ding erinnert mich zu stark an jenen anderen Ort. Die winzigen Nebelfetzen, die um alles herumwallen, das Gefühl, daß sich jemand links oder rechts von einem bewegt, ohne daß man ihn richtig sehen kann . . .«
Ich biß mir auf die Lippen. Der Schweiß brach mir aus. Ich versuchte mich von dem Ding durch die Schatten fortzubewegen – doch ich fühlte Widerstand. Nicht dasselbe Gefühl monolithischer Unbeweglichkeit, wie es eintritt, wenn man in Amber durch die Schatten zu treten versucht. Nein, es war etwas völlig anderes. Es war ein Gefühl der – Unentrinnbarkeit.
Dabei bewegten wir uns tatsächlich durch die Schatten. Die Sonne wanderte über den Himmel, rückte zur Mittagsstunde zurück – der Gedanke an eine Nacht in der Nähe des schwarzen Streifens mißfiel mir –, und der Himmel verlor etwas von seiner blauen Farbe, die Bäume schossen höher neben uns empor, und in der Ferne ragten Berge auf.
War es möglich, daß sich die Straße durch mehrere Schatten zog?
Es mußte so sein. Warum sonst hätten Julian und Gérard sie finden und sich so dafür interessieren sollen?
Lange Zeit fuhren wir parallel zu ihr und kamen ihr allmählich immer näher. Bald trennten uns noch etwa hundert Fuß. Dann fünfzig . . .
. . . Und ich hatte es geahnt: schließlich kam der Augenblick, da sich die Pfade kreuzten!
Ich zog die Zügel an. Ich stopfte meine Pfeife, zündete sie an und rauchte vor mich hin, während ich die Erscheinung studierte. Star und Feuerdrache mochten das schwarze Gebiet offenbar nicht, das unseren Weg kreuzte. Sie wieherten und wollten zur Seite ausbrechen.
Wenn wir auf der Straße bleiben wollten, mußten wir diagonal über die schwarze Fläche fahren. Ein Teil des Terrains lag außerdem hinter einer Reihe Felsen und konnte nicht eingesehen werden. Hohes Gras stand am Rande des schwarzen Gebiets, da und dort auch ein Büschel am Fuße der Felsformationen. Nebelschwaden bewegten sich dazwischen, und über den Senken hingen Dunstwolken. Der Himmel, den man durch die Atmosphäre über dem Streifen sehen konnte, war um etliches dunkler und hatte ein seltsam rußiges, verschmiertes Aussehen. Eine unnatürlich anmutende Stille lag vor uns, fast als sei hier ein unsichtbares Wesen zum Angriff bereit und habe den Atem angehalten.