Dann hörten wir den Schrei. Es war die Stimme eines Mädchens! Der alte Trick mit der Frau in Not?
Er kam von irgendwo rechts, von einer Stelle hinter den Felsen. Die Sache roch mir nach einer Falle. Aber Himmel! Vielleicht war dort wirklich jemand in Gefahr! Ich warf Ganelon die Zügel zu, sprang zu Boden und zog Grayswandir.
»Ich sehe mich mal um«, sagte ich, schritt nach rechts und sprang über den Graben, der neben der Straße verlief.
»Beeilt Euch.«
Ich drängte mich durch lichtes Unterholz und erstieg einen Felshang. Auf der gegenüberliegenden Seite mußte ich ein weiteres Gebüsch überwinden und erreichte schließlich eine höhere Felsformation. Von neuem ein Schrei, und diesmal hörte ich auch andere Geräusche.
Schließlich war ich auf der Anhöhe und vermochte ziemlich weit zu blicken.
Das schwarze Territorium begann etwa vierzig Fuß unter mir, und die Szene, die meine Aufmerksamkeit erregte, spielte sich ungefähr hundertundfünfzig Fuß jenseits der Grenze ab.
Bis auf die Flammen war es ein einfarbiges Bild. Eine Frau mit schwarzem Haar, das ihr bis zu den Hüften herabhing, war an einen der schwarzen Bäume gefesselt, glimmende Äste lagen um ihre Füße aufgehäuft. Ein halbes Dutzend haariger Albinomänner, die schon fast völlig nackt waren und sich beim Herumtanzen weiter entkleideten, stocherten knurrend und lachend mit Stöcken nach der Frau und griffen sich dabei auch immer wieder an die Genitalien. Die Flammen waren inzwischen so hoch, daß sie das weiße Gewand der Frau versengten und den Stoff glimmen ließen. Das Kleid war zerrissen, so daß ich ihren herrlich geformten Körper erkennen konnte, während der Rauch sie dermaßen einhüllte, daß ihr Gesicht nicht auszumachen war.
Ich stürzte vorwärts, betrat das Gebiet der schwarzen Straße, sprang über die langen Grasbüschel und warf mich zwischen die Gestalten. Ich köpfte den ersten und spießte einen zweiten auf, ehe mein Angriff überhaupt bemerkt wurde. Die anderen drehten sich um und hieben brüllend mit den Stöcken auf mich ein.
Grayswandir wütete zwischen ihnen, bis sie zerstückelt zu Boden sanken und keinen Ton mehr von sich gaben. Ihr Blut war schwarz.
Ich wandte mich um und stieß mit einem Fußtritt das Feuer beiseite. Dann näherte ich mich der Frau und durchtrennte ihre Fesseln. Schluchzend fiel sie mir in die Arme.
Erst jetzt bemerkte ich ihr Gesicht – oder eher das Fehlen eines Gesichts. Sie trug eine elfenbeinerne Vollmaske, eine Maske ohne jede Andeutung von Gesichtszügen, bis auf zwei winzige rechteckige Schlitze anstelle der Augen.
Ich zog sie von dem Feuer und den Toten fort. Sie klammerte sich schweratmend an mich, wobei sie sich mit dem ganzen Körper an mich drängte. Nach einer mir angemessen erscheinenden Zeit versuchte ich mich von ihr zu lösen. Doch sie gedachte nicht, mich loszulassen und entwickelte dabei überraschende Kräfte.
»Schon gut«, sagte ich. Sie antwortete nicht.
Ihre festen Hände bewegten sich fordernd über meinen Körper, vollführten rauhe Liebkosungen, die eine überraschende Wirkung auf mich hatten. Von Sekunde zu Sekunde stieg ihre Anziehung auf mich. Ich ertappte mich dabei, daß ich ihr Haar und ihren begehrlichen Körper streichelte, ihre festen Brüste, ihren Leib.
»Es ist alles vorbei«, sagte ich mit rauher Stimme. »Wer seid Ihr? Warum wollte man Euch verbrennen? Was waren das für Männer?«
Doch sie antwortete nicht. Sie hatte zu schluchzen aufgehört, wenn sie auch noch immer heftig atmete, nun allerdings aus anderen Gründen. Sie drängte ihren Leib fordernd an mich.
»Warum tragt Ihr die Maske?« flüsterte ich.
Ich griff danach, aber sie warf den Kopf zurück.
Doch dieses Detail kam mir nicht sonderlich wichtig vor. Während ein nüchterner, logischer Teil meines Ich genau wußte, daß diese Leidenschaft unvernünftig war, war ich zugleich so machtlos wie die Götter der Epikuräer. Ich wollte sie auf der Stelle besitzen und war dazu bereit. Meine Erregung hatte ihren Höhepunkt erreicht. Ich wollte nicht länger zögern, nestelte an meinen Hosen . . .
In diesem Augenblick hörte ich Ganelon meinen Namen rufen und versuchte, mich in seine Richtung zu wenden.
Doch sie hielt mich zurück.
Ihre Kräfte verblüfften mich.
»Kind von Amber«, ertönte ihre vertraut klingende Stimme. »Wir schulden dir dies für die Dinge, die du uns gegeben hast, und wir werden dich jetzt ganz besitzen.«
Wieder drang Ganelons Stimme an meine Ohren, eine endlose Hut von Verwünschungen.
Ich lehnte mich unter Aufbietung sämtlicher Kräfte gegen ihren Griff auf, der schwächer wurde. Meine Hand schoß vor, und ich riß die Maske ab.
Als ich mich befreite, ertönte ein kurzer zorniger Schrei – und vier letzte, verhallende Worte:
»Amber muß vernichtet werden!«
Hinter der Maske war kein Gesicht. Dahinter war überhaupt nichts.
Das Gewand der Frau sank schlaff über meinen Arm. Sie oder es – oder was immer es war – war verschwunden.
Ich machte hastig kehrt und sah Ganelon am Rand der schwarzen Fläche liegen. Seine Beine waren in unnatürlicher Haltung verdreht. Seine Klinge hob und senkte sich langsam, doch ich vermochte nicht zu erkennen, mit was er kämpfte. Ich eilte zu ihm.
Das lange schwarze Gras, das ich übersprungen hatte, lag um seine Knöchel und Unterschenkel. Während er sich freizuhacken versuchte, wippten andere Grashalme hin und her, als wollten sie seinen Schwertarm einfangen. Es war ihm gelungen, sein rechtes Bein teilweise zu befreien, und ich beugte mich vor und vermochte seine Arbeit zu vollenden.
Dann trat ich außer Reichweite der Gräser hinter ihn und warf die Maske fort, die ich, wie ich in diesem Augenblick erkannte, noch immer umklammert hielt. Sie fiel innerhalb der schwarzen Fläche zu Boden und begann sofort zu glimmen.
Ich packte Ganelon unter den Armen und versuchte ihn fortzuzerren. Das Gras widersetzte sich, doch ich riß ihn los. Ich schleppte ihn über das restliche Gras, das uns von der friedlicheren grünen Abart am Straßenrand trennte.
Er kam wieder auf die Füße, mußte sich aber noch schwer auf mich stützen. Er bückte sich und beklopfte seine Beine.
»Betäubt«, sagte er. »Mir sind die Beine eingeschlafen.«
Ich half ihm zum Wagen zurück. Er klammerte sich am Wagenkasten fest und begann mit den Füßen aufzustapfen.
»Es kribbelt!« verkündete er. »Ich habe langsam wieder Gefühl darin . . . autsch!«
Schließlich humpelte er zum vorderen Teil des Wagens. Ich half ihm auf den Kutschbock und folgte ihm.
»Das ist schon besser«, seufzte er. »Meine Füße kommen langsam wieder zu sich. Das Zeug hat mir förmlich die Kraft aus den Beinen gesogen – und aus dem Rest meines Körpers. Was war los?«
»Unser schlechtes Omen hat sein Versprechen wahrgemacht.«
»Was nun?«
Ich ergriff die Zügel und löste die Bremse.
»Wir fahren hinüber«, sagte ich trotzig. »Ich muß mehr über diese Erscheinung erfahren. Haltet Eure Klinge bereit.«
Er knurrte etwas vor sich hin und legte sich die Waffe über die Knie. Den Pferden gefiel mein Kommando gar nicht, doch als ich ihre Flanken mit der Peitsche tätschelte, setzten sie sich in Bewegung.
Wir erreichten das schwarze Territorium, und mir war, als wären wir plötzlich in eine Wochenschau aus dem Zweiten Weltkrieg geraten. Vage, doch ganz in der Nähe, düster, deprimierend, bedrückend. Selbst das Quietschen des Wagens und der Hufschlag klangen irgendwie gedämpft, schienen plötzlich aus der Ferne zu kommen. In meinen Ohren setzte ein schwaches, nachdrückliches Klingen ein. Das Gras am Straßenrand bewegte sich, wenn wir vorbeifuhren, doch ich achtete darauf, den Halmen nicht zu nahe zu kommen. Wir durchquerten mehrere Nebelfelder. Obwohl sie geruchlos waren, vermochten wir kaum darin zu atmen. Als wir uns dem ersten Hügel näherten, begann ich mit der Verschiebung, die uns durch die Schatten bringen sollte.
Wir umrundeten den Hügel.