Nichts.
Die düstere Höllenszene hatte sich nicht verändert.
Da wurde ich wütend. Aus dem Gedächtnis zeichnete ich das Muster auf und hielt es mir flammend vor das innere Auge. Und wieder probierte ich eine Verschiebung.
Sofort begann mein Kopf zu schmerzen. Von der Stirn bis zum Hinterkopf schoß ein Schmerz und verharrte dort wie ein glühender Draht. Aber das stachelte meinen Zorn nur noch mehr an und verstärkte meine Bemühungen, die schwarze Straße im Nichts verschwinden zu lassen.
Die Umgebung verschwamm. Der Nebel verdichtete sich, wallte in Schwaden über die Straße. Die Umrisse wurden undeutlich. Ich schüttelte die Zügel, und die Pferde griffen schneller aus. In meinem Kopf begann es zu dröhnen, als wollte mir der Schädel zerspringen.
Statt dessen zersprang sekundenlang alles andere . . .
Der Boden erbebte, begann da und dort Risse zu zeigen – aber es war mehr als nur das. Durch alles schien ein plötzliches Zucken zu gehen, und die Risse waren nicht nur bloße Bruchstellen im Boden. Es war, als habe jemand gegen einen Tisch getreten, auf dem sich ein lose zusammengelegtes Puzzle befunden hatte. Lücken erschienen in der ganzen Szene: hier ein grüner Stamm, dort ein Wasserflirren, die Ecke eines blauen Himmels, absolute Schwärze, ein weißes Nichts, die halbe Front eines Backsteinhauses, Gesichter hinter einem Fenster, Feuer, ein Stück sternenheller Himmel . . .
Die Pferde jagten dahin, und ich mußte an mich halten, um vor Schmerz nicht aufzuschreien.
Ein Chaos an Geräuschen – tierisch, menschlich, mechanisch – umtoste uns. Ich glaubte Ganelon fluchen zu hören, aber ich war meiner Sache nicht sicher.
Ich glaubte, der Schmerz müßte mir das Bewußtsein rauben, doch aus Sturheit und Zorn beschloß ich, so lange wie möglich durchzuhalten. Ich konzentrierte mich auf das Muster, so wie ein Sterbender sich vielleicht an seinen Gott klammert, und setzte meinen gesamten Willen gegen die Existenz der schwarzen Straße.
Im nächsten Augenblick war der Druck von mir gewichen, und die Pferde stürmten dahin, zerrten uns über ein grünes Feld. Ganelon griff nach den Zügeln, doch ich zog sie bereits an und brüllte den Pferden zu, bis sie anhielten.
Wir hatten die schwarze Straße überquert.
Ich drehte mich um und blickte zurück. Die Szene war schwankend und zuckend, als betrachtete ich sie durch aufgewühltes Wasser. Unser Weg durch die Schwärze zeichnete sich jedoch scharf und reglos ab, wie eine Brücke oder ein Damm, und das Gras am Rand war grün.
»Das war ja schlimmer«, sagte Ganelon, »als der Ritt, auf dem Ihr mich damals ins Exil führtet.«
»Das glaube ich auch«, sagte ich und redete leise auf die Pferde ein, brachte sie schließlich dazu, auf den Weg zurückzukehren und weiterzutrotten.
Die Welt war nun wieder heller. Wir bewegten uns zwischen großen Pinien, deren frischer Geruch in der Luft lag. Eichhörnchen und Vögel bewegten sich in den Ästen. Der Boden war dunkler und fruchtbarer. Wir schienen uns in größerer Höhe zu befinden als vor der Überquerung. Es freute mich, daß wir wirklich eine Verschiebung durchgemacht hatten – und noch dazu in der gewünschten Richtung.
Der Weg krümmte sich, führte ein Stück zurück, verlief wieder gerade. Ab und zu vermochten wir einen Blick auf die schwarze Straße zu werfen. Sie lag nicht allzuweit entfernt zu unserer Rechten. Noch immer fuhren wir etwa parallel dazu. Die Erscheinung zog sich eindeutig durch sämtliche Schatten. Soweit wir erkennen konnten, schien sie wieder in ihren unheimlichen Normalzustand zurückgefunden zu haben.
Meine Kopfschmerzen ließen nach, meine Stimmung verbesserte sich etwas. Wir erreichten eine höherliegende Fläche und hatten einen herrlichen Ausblick auf ein großes Waldgebiet, das mich an Teile von Pennsylvanien erinnerte, durch die ich vor vielen Jahren gefahren war.
Ich reckte mich. »Wie geht es Euren Beinen?« fragte ich.
»Gut«, sagte Ganelon, der sich umgedreht hatte. »Ich kann ziemlich weit schauen, Corwin . . .«
»Ja?«
»Und ich sehe einen Reiter, der schnell dahingaloppiert.«
Ich stand auf und drehte mich um. Vielleicht stöhnte ich, als ich mich wieder auf den Sitz fallen ließ und die Zügel schüttelte.
Er war noch zu weit entfernt, um deutlich sichtbar zu sein – auf der anderen Seite der schwarzen Straße. Aber wer konnte es sonst sein, wer sonst konnte mit solchem Tempo unseren Spuren folgen?
Ich fluchte.
Wir näherten uns einer Anhöhe. Ich wandte mich an Ganelon und sagte: »Macht Euch auf einen weiteren Höllenritt gefaßt.«
»Ist das Benedict?«
»Ich glaube schon. Wir haben vorhin zuviel Zeit verloren. Allein kann er sich sehr schnell bewegen – und besonders durch die Schatten.«
»Glaubt Ihr, daß wir ihn noch abschütteln können?«
»Das werden wir feststellen«, erwiderte ich. »Und zwar ziemlich bald.«
Ich trieb die Pferde mit einem Schnalzen an und schüttelte erneut die Zügel. Wir erreichten die Kuppe, und ein eisiger Wind fuhr uns entgegen. Der Weg flachte ab, und der Schatten eines Felsbrocken zu unserer Linken verdunkelte den Himmel. Als wir daran vorbei waren, hielt sich die Dunkelheit, und feine Schneekristalle prickelten uns auf Gesichtern und Händen.
Wenige Minuten später fuhren wir wieder bergab, und das Schneetreiben war zu einem tobenden Sturm geworden. Der Wind kreischte uns in den Ohren, und der Wagen ratterte und rutschte zur Seite weg. Hastig richtete ich ihn wieder aus. Rasch waren wir von Schneewehen umgeben, und die Straße war weiß. Unser Atem dampfte, Eis schimmerte an Bäumen und Felsen.
Bewegung, vorübergehende Verwirrung der Sinne. Das brauchten wir jetzt . . .
Wir rasten weiter, und der Wind bedrängte uns, schmerzte und brüllte. Die Schneewehen rückten bis auf die Straße vor.
Wir kamen um eine Kurve und verließen den Sturm. Noch war die Welt ein eisbedecktes Etwas, noch wehte dann und wann eine Schneeflocke vorbei, doch die Sonne löste sich aus den Wolken, schüttete ihr Licht über das Land, und wieder fuhren wir bergab . . .
. . . Kamen durch einen Nebel und erreichten eine schroffe schneelose Felseinöde . . .
. . . Wir hielten uns rechts, gelangten wieder in die Sonne, folgten einem gewundenen Weg durch hohes, glattes, blaugraues Gestein auf eine Ebene . . .
. . . Wo fern zur Rechten die schwarze Straße Schritt hielt. Hitzewogen überrollten uns, und das Land dampfte. Blasen platzten in brodelnden Massen, die die Krater füllten, entließen ihre giftigen Dämpfe in die stickige Luft. Flache Pfützen erstreckten sich vor uns wie eine Handvoll verstreuter alter Bronzemünzen.
Die Pferde galoppierten dahin, halb irrsinnig vor Angst, als neben dem Weg Geysire auszubrechen begannen. Kochendheißes Wasser sprühte in schimmernden, dampfenden Kaskaden über die Fahrspur, verfehlte uns knapp. Der Himmel schien aus Messing zu bestehen, und die Sonne sah aus wie ein verfaulter Apfel. Der Wind war ein hechelnder Hund mit übelriechendem Atem.
Der Boden erzitterte, und in der Ferne spuckte ein Berg seinen Gipfel zum Himmel empor und warf ihm Feuersbrünste hinterher. Ein ohrenbetäubendes Krachen folgte, und Luftwogen bestürmten uns.
Der Wagen schwankte und brach aus der Spur.
Wir rasten auf eine Reihe schwarzer Berge zu, und die ganze Zeit über bebte der Boden, und der Wind bedrängte uns mit der Stärke eines Hurrikans. Als sich das, was von dem Weg noch übrig war, in die falsche Richtung wandte, verließen wir die Spur und fuhren holpernd und dröhnend über die Ebene. Die Berge wuchsen langsam vor uns empor, tanzten in der aufgewühlten Luft.
Ich wandte mich um, als ich Ganelons Hand auf meinem Arm spürte. Er brüllte irgend etwas, doch ich vermochte ihn nicht zu verstehen. Dann deutete er nach hinten, und ich blickte in die Richtung. Aber dort zeigte sich nichts Überraschendes. Die Luft war turbulent, bewegte Staub, Erdbrocken und Asche. Ich zuckte die Achseln und konzentrierte mich wieder auf die Berge.
Am Fuße der nächsten Anhöhe tat sich eine tiefe Dunkelheit auf. Ich hielt darauf zu.
Als sich der Boden wieder abwärts senkte, wuchs die Schwärze vor mir empor, eine gewaltige Höhlenöffnung, verdeckt durch einen Vorhang aus Staub und fallenden Steinen.