Anschließend überließ ich Ganelon ein wenig sich selbst, da er sich geradezu mit Begeisterung in seine Touristenrolle gefunden hatte. Ich setzte ihn in Italien ab, eine Kamera vor dem Bauch und einen abwesenden Blick in den Augen, und flog zurück in die Vereinigten Staaten.
Zurück? Ja, das heruntergekommene Gebäude am Hang unter mir war fast zehn Jahre lang mein Zuhause gewesen. Zu diesem Haus war ich seinerzeit unterwegs gewesen, als ich von der Straße gedrängt und in den Unfall verwickelt wurde, welcher zu allen bisherigen Ereignissen führte.
Ich zog an meiner Zigarette und betrachtete das Gebäude. Damals war es nicht heruntergekommen gewesen. Ich hatte mich immer gut darum gekümmert. Das Haus war voll bezahlt. Sechs Zimmer und eine angebaute Garage für zwei Wagen. Ein Grundstück von etwa sieben Morgen, praktisch der ganze Hang. Ich hatte dort die meiste Zeit allein gelebt – ein Zustand, der mir gefiel. Einen großen Teil meiner Zeit verbrachte ich im Arbeitszimmer und in der Werkstatt. Ich fragte mich, ob der Holzschnitt von Mori noch im Arbeitszimmer hing. Von Angesicht zu Angesicht hieß er – die Darstellung zweier Krieger in tödlichem Kampf. Es wäre nett, wenn ich das Bild zurückhaben könnte. Aber sicher war es längst gestohlen; das sagte mir ein Gefühl. Wahrscheinlich waren die Dinge, die man nicht gestohlen hatte, zur Begleichung ausstehender Steuern versteigert worden. Ich konnte mir vorstellen, daß der Staat New York so etwas fertigbrachte. Es überraschte mich etwas, daß das Haus selbst noch keine neuen Bewohner hatte. Ich setzte meine Wacht fort, um ganz sicherzugehen. Himmel, ich hatte keine Eile. Ich wurde nirgendwo erwartet.
Kurz nach meiner Ankunft in Belgien hatte ich mich mit Gérard in Verbindung gesetzt. Ich hatte überlegt und dann zunächst auf den Versuch verzichtet, mit Benedict zu sprechen. Ich hatte Angst, daß er mich sofort wieder angreifen würde, so oder so.
Gérard hatte mich seltsam lauernd angesehen. Er war irgendwo in offenem Gelände und schien allein zu sein.
»Corwin?« fragte er schließlich. »Ja . . .«
»Ja. Was war mit Benedict?«
»Ich fand ihn, wie du gesagt hattest, und ließ ihn frei. Er wollte dich sofort verfolgen, doch ich konnte ihn überzeugen, daß seit meinem Gespräch mit dir ziemlich viel Zeit vergangen sei. Da du gesagt hattest, er wäre bewußtlos gewesen, hielt ich das für den besten Weg. Außerdem war sein Pferd sehr erschöpft. Wir sind dann gemeinsam nach Avalon zurückgekehrt. Ich bin bis nach der Beerdigung bei ihm geblieben und habe mir dann ein Pferd ausgeliehen. Jetzt reite ich nach Amber zurück.«
»Beerdigung? Was für eine Beerdigung?«
Von neuem traf mich sein lauernder Blick.
»Du weißt es wirklich nicht?«
»Verdammt – würde ich fragen, wenn ich es wüßte?«
»Seine Dienstboten. Sie wurden alle ermordet. Er behauptet, du hättest es getan.«
»Nein!« rief ich. »Nein. Das ist lächerlich! Warum sollte ich seine Bediensteten umbringen? Ich begreife das alles nicht . . .«
»Kurz nach seiner Rückkehr begann er die Leute zu suchen, da sie nicht zur Begrüßung erschienen waren. Er fand sie ermordet vor – und du warst mit deinem Begleiter verschwunden.«
»Ich kann mir vorstellen, wie das auf ihn gewirkt haben muß«, sagte ich. »Wo waren die Leichen?«
»Vergraben, nicht sehr tief, in dem Wäldchen hinter dem Garten.«
Aha . . . Aber ich sollte lieber nicht erwähnen, daß ich von dem Grab gewußt hatte.
»Welchen Grund sollte ich wohl haben, so etwas zu tun?« fragte ich.
»Er ist inzwischen ziemlich verwirrt, Corwin. Er begreift nicht, warum du ihn nicht umgebracht hast, als du die Gelegenheit dazu hattest, und warum du mich geholt hast, wo du ihn doch hättest liegen lassen können.«
»Ich verstehe jetzt, warum er mich während unseres Kampfes immer wieder einen Mörder genannt hat, aber . . . Hast du ihm meine Worte ausgerichtet: daß ich niemanden getötet habe?«
»Ja. Zuerst hat er das als Schutzbehauptung abgetan. Ich sagte ihm, du schienst es ehrlich zu meinen und wärst ziemlich ratlos gewesen. Ich glaube, es hat ihm zu schaffen gemacht, daß du so beharrlich gewesen bist. Er fragte mich mehrmals, ob ich dir glaubte.«
»Und glaubst du mir?«
Er senkte den Blick. »Verdammt, Corwin! Was soll ich wohl glauben? Ich bin mitten in diese Sache hineingeraten! Wir waren so lange getrennt . . .«
Er hielt meinem Blick stand.
»Das ist aber noch nicht alles«, sagte er dann.
»Was meinst du damit?«
»Warum hast du mich gerufen? Du hattest Benedict ein komplettes Spiel Tarockkarten abgenommen. Du hättest dich an jeden von uns wenden können.«
»Du machst Witze«, sagte ich.
»Nein. Ich möchte eine Antwort haben.«
»Na schön. Du bist der einzige, dem ich noch traue.«
»Ist das alles?«
»Nein. Benedict möchte nicht, daß sein Aufenthaltsort in Amber bekannt wird. Du und Julian, ihr seid die beiden einzigen, von denen ich wußte, daß ihr Benedicts Wohnort kanntet. Und Julian mag ich nicht, ich traue ihm nicht. Also habe ich dich gerufen.«
»Woher wußtest du, daß Julian und ich über Benedict Bescheid wußten?«
»Er hat euch vor einiger Zeit beigestanden, als ihr auf der schwarzen Straße Probleme hattet, und er bot euch Unterkunft, während ihr wieder zu Kräften kamt. Dara hat mir davon erzählt.«
»Dara? Wer ist das überhaupt?«
»Die Waisentochter eines Ehepaars, das einmal für Benedict gearbeitet hat«, sagte ich. »Sie war im Haus, als du und Julian dort wart.«
»Und du hast ihr ein Armband geschickt. Du hast schon einmal von ihr gesprochen, am Straßenrand, als du mich gerufen hattest.«
»Richtig. Was ist denn los?«
»Nichts. Ich erinnere mich nur gar nicht an sie. Sag mir, warum bist du so plötzlich abgereist? Du mußt doch zugeben, daß das der Handlungsweise eines schuldbewußten Menschen entspricht.«
»Ja«, sagte ich. »Ich war auch schuldig – doch nicht eines Mordes. Ich war nach Avalon gekommen, um mir etwas zu besorgen. Ich bekam es und verschwand. Du hast ja selbst meinen Wagen gesehen, auf dem ich eine Ladung hatte. Ich bin vor Benedicts Rückkehr verschwunden, um ihm keine Fragen beantworten zu müssen über die Ladung. Himmel! Wenn ich einfach nur hätte ausreißen wollen, würde ich doch nicht einen hinderlichen Wagen mitgenommen haben! Ich wäre auf dem Pferderücken geflohen, schnell und mühelos.«
»Was war denn auf dem Wagen?«
»Nein«, entgegnete ich. »Ich wollte Benedict nichts darüber sagen, und ich werde dir auch nichts verraten. Oh, er kann es sicher herausfinden. Doch dazu soll er sich ruhig anstrengen, wenn er unbedingt will. Die Frage ist aber unwichtig. Die Tatsache, daß ich aus einem bestimmten Grund nach Avalon gekommen war und mir das Gewünschte geholt habe, müßte eigentlich ausreichen. In Avalon ist das Material nicht besonders wertvoll – um so mehr aber an einem anderen Ort. Genügt das?«
»Ja«, sagte er. »Das scheint mir jedenfalls einen Sinn zu ergeben.«
»Dann beantworte meine Frage: Glaubst du, daß ich die Leute umgebracht habe?«
»Nein«, entgegnete er. »Ich glaube dir.«
»Was ist mit Benedict? Was glaubt er heute?«
»Er würde dich nicht noch einmal auf der Stelle angreifen – er würde erst mit dir sprechen. Ihn bewegen Zweifel, das weiß ich.«
»Gut. Das ist ja wenigstens etwas. Vielen Dank, Gérard. Ich unterbreche jetzt die Verbindung.«
Ich machte Anstalten, die Karte zu verdecken.
»Warte, Corwin! Warte!«
»Was ist?«
»Wie hast du die schwarze Straße durchtrennt? An der Stelle, an der du sie überquert hast, ist ein Stück zerstört worden. Wie ist dir das gelungen?«