»Mit dem Muster«, sagte ich. »Wenn du je Ärger mit dem Ding bekommst, verwende das Muster als Waffe. Du weißt doch, daß man es sich manchmal im Geiste vorstellen muß, wenn einem die Schatten zu entgleiten drohen und die Lage unhaltbar wird.«
»Ja. Ich hab´s versucht, aber es klappte nicht. Ich bekam nur Kopfschmerzen davon. Die Straße ist kein Teil der Schatten.«
»Ja und nein«, sagte ich. »Ich weiß, was sie ist. Du hast dich nicht genug angestrengt. Ich habe das Muster eingesetzt, bis sich mein Kopf anfühlte, als würde er zermalmt, bis ich vor Schmerzen halb blind und einer Ohnmacht nahe war. Doch statt dessen löste sich die Straße ringsum plötzlich auf. Die Sache war beileibe nicht leicht, doch sie hat funktioniert.«
»Ich werd´s mir merken«, sagte er. »Wirst du jetzt noch mit Benedict sprechen?«
»Nein«, sagte ich. »Er weiß schon all die Dinge, die wir eben besprochen haben. Da er sich etwas beruhigt hat, wird er sich wieder mehr mit den Tatsachen beschäftigen. Mir ist lieber, wenn er das allein tut – und ich möchte keinen neuen Kampf riskieren. Wenn ich jetzt Schluß mache, werde ich mich lange nicht mehr melden. Ich werde mich auch allen Kontaktversuchen widersetzen.«
»Was ist mit Amber, Corwin? Was ist mit Amber?«
Ich senkte den Blick.
»Bleib mir aus dem Weg, wenn ich zurückkehre, Gérard. Glaub mir, die Sache wird kein Wettstreit . . .«
»Corwin . . . Warte. Ich möchte dich bitten, dir die Sache noch einmal gründlich zu überlegen. Greif Amber nicht gerade jetzt an. Es ist schwach, doch aus anderen Gründen.«
»Tut mir leid, Gérard. Aber ich bin sicher, daß ich in den letzten fünf Jahren mehr und öfter über das Problem nachgedacht habe als ihr alle zusammen.«
»Dann tut es mir leid.«
»Ich sollte jetzt lieber gehen.«
Er nickte. »Auf Wiedersehen, Corwin.«
»Auf Wiedersehen, Gérard.«
Nachdem ich mehrere Stunden lang auf den Sonnenuntergang gewartet hatte, der das Haus in ein vorzeitiges Dämmerlicht hüllte, drückte ich meine letzte Zigarette aus, zog meine Jacke an und stand auf. Auf dem Grundstück hatte sich nichts gerührt, niemand bewegte sich hinter den Fenstern, hinter der zerbrochenen Scheibe. Vorsichtig stieg ich den Hügel hinab.
Floras Haus in Westchester war bereits vor einigen Jahren verkauft worden – ein Umstand, der mich nicht überraschte. Aus reiner Neugier hatte ich mich dort umgesehen, da ich zufällig in der Gegend war. Ich war sogar einmal an dem Grundstück vorbeigefahren. Sie hatte schließlich keinen Grund, auf der Schatten-Erde zu bleiben. Nachdem ihr langes Wächteramt mit einem Erfolg geendet hatte, stand sie nun am Hofe Ambers in hohen Gnaden; das war jedenfalls der Stand der Dinge, als ich sie zum letztenmal gesehen hatte. Meiner Schwester solange so nahe gewesen zu sein, ohne von ihr zu wissen, war doch ziemlich ärgerlich.
Ich hatte überlegt, ob ich mich mit Random in Verbindung setzen sollte, war aber davon abgekommen. Er konnte mir im Grunde nur mit Informationen über die aktuellen Ereignisse in Amber nützen. Das mochte zwar ganz unterhaltsam sein, war aber nicht absolut erforderlich. Ich war ziemlich sicher, daß ich ihm trauen konnte. Schließlich hatte er mir schon einmal geholfen. Zugegeben, seine Motive waren nicht gerade altruistisch gewesen – doch immerhin war er etwas weiter gegangen, als er es nötig gehabt hätte. Das Ganze lag allerdings schon fünf Jahre zurück, und seither war viel geschehen. Er wurde in Amber wieder geduldet und hatte inzwischen eine Frau. Vielleicht lag ihm daran, sich etwas Ansehen zu verschaffen. Ich wußte es nicht. Doch als ich die möglichen Vorteile gegen die Risiken aufwog, hielt ich es doch für besser zu warten und ihn bei meinem nächsten Besuch in Amber persönlich zu sprechen.
Ich hatte mein Wort gehalten und mich allen Kontaktversuchen widersetzt. In den ersten beiden Wochen auf der Schatten-Erde verspürte ich das vertraute Bohren fast täglich. Doch inzwischen waren mehrere Wochen vergangen, ohne daß ich belästigt worden war. Warum sollte ich jemandem freien Zugang zu meiner Denkmaschine gewähren? Nein danke, Brüder.
Ich näherte mich der Rückseite des Hauses, schob mich von der Seite an ein Fenster heran, wischte es mit dem Ellbogen sauber. Drei Tage lang beobachtete ich das Haus nun schon und hielt es für sehr unwahrscheinlich, daß sich jemand im Innern aufhielt. Trotzdem . . .
Ich lugte hinein.
Drinnen herrschte natürlich ein fürchterliches Durcheinander, und ein großer Teil der Einrichtung fehlte. Einige Stücke waren allerdings noch vorhanden.
Ich bewegte mich nach links und drehte den Türknopf. Verschlossen. Leise lachte ich vor mich hin.
Ich ging auf die Terrasse. Neunter Stein von links, vierter Stein von unten. Der Schlüssel lag noch dort. Ich wischte ihn an meiner Jacke sauber und kehrte zurück. Dann betrat ich das Haus.
Überall lag Staub, der allerdings da und dort Spuren aufwies. Kaffeedosen, Sandwichhüllen und die Überbleibsel eines versteinerten Hamburgers im Kamin. In meiner Abwesenheit hatte sich die Natur durch den Schornstein Einlaß verschafft. Ich ging hinüber und schloß die Klappe.
Ich stellte fest, daß das Schloß der Vordertür aufgebrochen worden war. Ich drückte dagegen. Die ganze Füllung schien zugenagelt zu sein. An die Flurwand hatte jemand einen obszönen Spruch gemalt. Ich ging in die Küche, die völlig versaut war. Was von den Dieben nicht mitgenommen worden war, lag auf dem Boden herum. Herd und Eisschrank waren fort, der Fußbodenbelag zeigte noch die Kratzspuren, die die Einbrecher dabei hinterlassen hatten.
Ich kehrte in den Flur zurück und sah mich in meinem Arbeitszimmer um. Auch dort hatten die Langfinger tüchtig zugegriffen; es war praktisch nichts mehr übrig.
Ich ging weiter und war überrascht, mein Bett vorzufinden, noch immer ungemacht, und zwei teure Stühle, die niemand angerührt hatte.
Und eine noch angenehmere Überraschung wartete auf mich. Der große Tisch war mit Unrat und Staub bedeckt – aber das war auch schon früher so gewesen. Ich zündete mir eine Zigarette an und setzte mich dahinter. Wahrscheinlich war der Tisch zu schwer zum Mitnehmen. Meine Bücher standen auf den Regalen. Nur Freunde stehlen Bücher. Und dort . . .
Ich traute meinen Augen nicht! Ich stand auf und ging quer durch das Zimmer und starrte aus der Nähe darauf.
Yoshitoshi Moris herrlicher Holzschnitt hing dort, wo er immer gehangen hatte, sauber, eindrucksvoll, elegant, gewalttätig. Der Gedanke, daß sich niemand mit einem meiner Lieblings stücke davongemacht hatte . . .
Sauber?
Ich starrte auf das Bild. Ich fuhr mit dem Finger über den Rahmen.
Zu sauber. Hier fehlten der Staub und der Schmutz, die alles andere bedeckten.
Ich suchte nach Alarmdrähten, ohne welche zu finden, nahm das Bild vom Haken, senkte es.
Nein, die Wand dahinter war nicht heller als der Rest – die Tapete war grau wie überall.
Ich stellte Moris Werk auf die Fensterbank und kehrte an meinen Tisch zurück. Unruhe hatte mich befallen – und das war zweifellos beabsichtigt. Jemand hatte das Bild offenbar an sich genommen imd gut aufbewahrt, was ich nicht ohne Dankbarkeit vermerkte, und hatte es erst kürzlich wieder hierhergehängt. Es war, als hätte jemand meine Rückkehr erwartet.
Was eigentlich ein Grund zur sofortigen Flucht war, nehme ich an. Aber das war dumm. Wenn dies zu einer Falle gehörte, war sie längst zugeschnappt. Ich zerrte die Automatic aus meiner Jackentasche und steckte sie griffbereit in den Gürtel. Ich hatte ja selbst nicht gewußt, daß ich hierher kommen würde. Ich hatte mich kurzfristig dazu entschlossen, weil ich etwas Zeit hatte. Ich war mir nicht einmal sicher, warum ich das Haus eigentlich wiedersehen wollte.
Es handelte sich also um eine Art Vorsichtsmaßnahme. Wenn ich an den alten Herd zurückkehrte, dann vielleicht, um den einzigen Gegenstand an mich zu bringen, dessen Besitz sich lohnte. Also galt es diesen Gegenstand zu erhalten und so aufzuhängen, daß ich ihn bemerken mußte. Schön, ich hatte das Bild bemerkt. Man hatte mich noch nicht angegriffen, also schien es sich nicht um eine Falle zu handeln. Was sonst?