Wir übten fast drei Wochen lang, ehe ich zu dem Schluß kam, daß wir ausreichend gewappnet waren. An einem schönen, frischen Morgen hoben wir unser Lager auf und bewegten uns in die Schatten. Die Kolonne der Männer marschierte hinter den Lastwagen. Die Motoren der Lkws würden vollends streiken, wenn wir uns Amber näherten – sie begannen bereits erhebliche Schwierigkeiten zu machen –, doch wir hatten vor, sie zu benutzen, solange sie unsere Ausrüstung befördern konnten.
Diesmal gedachte ich Kolvir vom Norden her zu bezwingen und mich nicht noch einmal an den Hang, der zum Meer hin liegt, zu wagen. Die Männer kannten die Gegend von meinen Beschreibungen, und der Aufmarsch der Gewehrbrigaden war genauestens festgelegt und geübt.
Wir machten Mittagspause, aßen gut und setzten unseren Weg fort, wobei die Schatten langsam an uns vorbeiglitten. Der Himmel nahm ein leuchtend dunkles Blau an – der Himmel Ambers. Der Boden schimmerte schwarz zwischen dem Felsgestein und dem hellgrünen Gras. Das Laub von Bäumen und Büschen hatte einen feuchten Schimmer. Die Luft war süß und rein.
Bei Anbruch der Nacht hielten wir zwischen den mächtigen Bäumen am Rande des Waldes von Arden. Wir schlugen unser Lager auf und teilten ausreichend Wachen ein. Ganelon, der eine Khakiuniform mit Käppi trug, saß bis spät in die Nacht bei mir und ging ein letztesmal die Pläne durch, die ich gezeichnet hatte. Bis zum Berg waren es noch etwa vierzig Meilen.
Die Lkws gaben am folgenden Nachmittag den Geist auf. Sie machten mehrere schnelle Veränderungen durch, blieben wiederholt stehen und ließen sich schließlich nicht mehr starten. Wir schoben sie in ein enges Tal und tarnten sie mit Ästen. Dann verteilten wir Waffen und Munition und den Rest der Rationen auf die Männer und marschierten weiter.
Dabei verließen wir den festgetretenen Lehmweg und arbeiteten uns durch den Wald voran. Natürlich kamen wir nicht mehr so schnell von der Stelle, und die Chance, daß uns eine von Julians Patrouillen überraschte, wurde größer. Die Bäume ragten riesig empor, da wir inzwischen schon ziemlich weit nach Arden vorgedrungen waren, und nach und nach kam mir die Gegend immer bekannter vor.
Wir sahen an diesem Tag jedoch nichts Gefährlicheres als Füchse, Rotwild, Kaninchen und Eichhörnchen. Der Geruch des Waldes, seine grünen, goldenen und braunen Farbtöne weckten die Erinnerung an angenehmere Zeiten. Kurz vor Sonnenuntergang erstieg ich einen riesigen Baum und vermochte die Bergkette auszumachen, über der sich Kolvir erhob. Über den Bergen entlud sich gerade ein Unwetter, dessen Wolken die höchsten Gipfel einhüllten.
Zur Mittagsstunde des nächsten Tages stießen wir auf eine Patrouille Julians. Ich weiß nicht mehr, wer wen überraschte oder wer mehr überrascht war. Es wurde sofort geschossen. Ich schrie mich fast heiser bei dem Versuch, die Knallerei zu unterbinden, da jedermann begierig zu sein schien, seine Waffe an einem lebendigen Ziel zu erproben. Es war nur eine kleine Truppe von achtzehn Mann, und wir töteten alle. Auf unserer Seite gab es nur einen Ausfall; ein Mann verwundete einen anderen. Anschließend marschierten wir mit erhöhtem Tempo weiter: hatten wir doch ziemlich viel Lärm verursacht, und ich wußte nicht, ob vielleicht noch weitere Einheiten in der Nähe waren.
Bis zum Beginn der Dunkelheit legten wir eine große Strecke zurück und bewältigten einen ansehnlichen Höhenunterschied, und bei klarer Sicht konnten wir die Berge erkennen. Noch immer wallten die Gewitterwolken um die Gipfel. Meine Männer waren aufgeregt von der Schießerei und brauchten einige Zeit zum Einschlafen.
Am nächsten Tag erreichten wir die Vorberge, wobei wir zwei Patrouillen rechtzeitig entdeckten und ihnen aus dem Weg gingen. Ich ließ bis tief in die Nacht weitermarschieren, um eine besonders geschützte Stelle zu erreichen, die ich von früher kannte. Als wir uns endlich schlafen legten, waren wir etwa eine halbe Meile höher als in der Nacht zuvor.
Obwohl wir uns dicht unter einer Wolkendecke befanden, gab es keinen Regen; allerdings machte sich jene atmosphärische Spannung bemerkbar, wie sie oft einem Unwetter vorausgeht. In dieser Nacht schlief ich sehr unruhig. Ich träumte von dem brennenden Katzenkopf und von Lorraine.
Am Morgen setzten wir den Marsch unter einem grauen Himmel fort. Unbarmherzig trieb ich die Männer zur Eile an; dabei führte der Weg steil bergauf. Fernes Donnergrollen drang an unsere Ohren, und die Luft bebte und war elektrisch geladen.
Einige Stunden später führte ich unsere Kolonne einen gewundenen Felsweg hinauf. Da hörte ich plötzlich einen Schrei hinter mir, gefolgt von mehreren Gewehrsalven. Sofort hastete ich zurück.
Eine kleine Gruppe von Männern, zu der auch Ganelon gehörte, starrte auf etwas am Boden, unterhielt sich mit leisen Stimmen. Ich drängte mich zwischen sie.
Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Soweit ich mich zurückerinnern konnte, war ein Wesen dieser Art in der Nähe Ambers noch nicht gesehen worden. Etwa zwölf Fuß lang, mit der scheußliche Parodie eines Menschengesichts auf den Schultern eines Löwen, mit adlergleichen Flügeln, die die blutigen Flanken bedeckten, ein noch immer zuckender Schwanz, der mich an einen Skorpion denken ließ. Ein einziges Mal hatte ich bisher einen Manticora gesehen auf einer Insel, die im tiefen Süden lag – ein fürchterliches Ungeheuer, das auf meiner Liste gräßlicher Lebewesen ziemlich weit oben stand.
»Es hat Rail zerrissen, es hat Rail zerrissen«, wiederholte einer der Männer immer wieder.
Etwa zwanzig Schritt entfernt sah ich die Überreste Rails. Wir bedeckten ihn mit einer Plane, die mit Felsbrocken beschwert wurde. Mehr konnten wir nicht tun. Wenn der Zwischenfall überhaupt einen Nutzen hatte, dann den, daß wir die Welt mit neuer Vorsicht betrachteten, etwas, das uns nach dem gestrigen leichten Sieg verlorengegangen war. Die Männer marschierten stumm und wachsam dahin.
»Ein scheußliches Wesen«, sagte Ganelon. »Besitzt es die Intelligenz eines Menschen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl, ich bin nervös, Corwin. Als würde etwas Schreckliches passieren. Ich weiß nicht, wie ich es sonst ausdrücken soll.«
»Ich weiß.«
»Fühlt Ihr es auch?«
»Ja.«
Er nickte.
»Vielleicht ist es das Wetter«, sagte ich.
Wieder nickte er, diesmal zögernder.
Während wir unseren Aufstieg fortsetzten, wurde der Himmel immer dunkler, und das Donnergrollen hörte überhaupt nicht mehr auf. Im Westen zuckten Hitzeblitze auf, und der Wind wurde kräftiger. Wenn ich aufblickte, vermochte ich die gewaltigen Wolkenmassen über den höheren Gipfeln zu erkennen. Schwarze, vogelähnliche Gestalten zeichneten sich ständig davor ab.
Kurz darauf stießen wir auf einen zweiten Manticora, den wir aber zu töten vermochten, bevor er uns angreifen konnte. Etwa eine Stunde später wurden wir von einer Horde riesiger Ungeheuer mit rasiermesserscharfen Schnäbeln angegriffen. Solche Wesen kamen mir zum erstenmal unter die Augen. Wir konnten sie zwar verscheuchen, doch der Zwischenfall beunruhigte mich noch mehr.
Wir kletterten weiter und fragten uns immer wieder, wann das Unwetter losbrechen würde. Der Wind wurde immer heftiger.
Es dunkelte, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen sein konnte. Als wir uns den Wolkenbänken näherten, bekam die Luft etwas Nebliges, Dunstiges. Ein Gefühl der Feuchtigkeit machte sich überall bemerkbar. Die Felsen wurden glitschiger. Ich war geneigt, die Kolonne halten zu lassen, doch Kolvir war noch ziemlich weit, und ich wollte unsere Versorgungslage nicht gefährden.
Wir bewältigten noch etwa vier Meilen und mehrere tausend Fuß Höhenunterschied, ehe wir schließlich doch rasten mußten. Inzwischen war es stockdunkel geworden, und die einzige Beleuchtung stammte von den immer wieder aufflammenden Blitzen. Wir lagerten in einem großen Kreis auf einem harten, kahlen Hang, umgeben von Posten. Der Donner erdröhnte wie Kriegsmusik – eine Lärmkulisse ohne Ende. Die Temperatur sank ins Bodenlose. Es wäre sinnlos gewesen, das Anzünden von Lagerfeuern zu erlauben – wir hatten keinen Brennstoff. Wir machten uns auf eine kalte, feuchte, düstere Nacht gefaßt.