Wir eilten weiter. Es war ein weiter Weg in die Tiefe, und nur etwa alle vierzig Fuß brannte eine Laterne. Es war eine riesige, natürlich gewachsene Höhle. Ich fragte mich, ob überhaupt ein Mensch wußte, wie viele Tunnel und Korridore sie enthielt. Plötzlich überkam mich Mitleid mit den armen Geschöpfen, die in den Verliesen dort unten verkamen – aus welchen Gründen auch immer. Ich beschloß, sie freizulassen oder eine bessere Verwendung für sie zu finden.
Minuten vergingen. Ich sah das Flackern der Fackeln und Laternen unter mir.
»Es geht um ein Mädchen«, sagte ich. »Sie heißt Dara. Sie hat mir erzählt, sie sei Benedicts Urenkelin – und zwar äußerst glaubhaft. Sie besitzt eine gewisse Macht über die Schatten und war sehr darauf aus, das Muster abzuschreiten. Als ich sie zuletzt sah, galoppierte sie zur Stadt. Benedict hat mir inzwischen geschworen, sie sei nicht seine Enkelin. Und plötzlich habe ich Angst. Ich möchte sie vom Muster fernhalten. Ich möchte sie ausfragen.«
»Seltsam«, sagte er. »Sehr seltsam, da muß ich dir recht geben. Glaubst du, daß sie schon unten ist?«
»Wenn nicht, dann kommt sie bestimmt bald. Das sagt mir mein Gefühl.«
Endlich erreichten wir den Boden, und ich hastete durch die Dunkelheit auf den richtigen Tunnel zu.
»Warte!« brüllte Random mir nach.
Ich blieb stehen und wandte mich um. Es dauerte einen Augenblick, bis ich ihn entdeckte, da er sich hinter der Treppe befand. Ich kehrte um.
Meine Frage blieb unausgesprochen. Ich sah, daß er neben einem großen bärtigen Mann kniete.
»Tot«, sagte er. »Eine sehr schmale Klinge. Ein geschickter Stich. Gar nicht lange her.«
»Weiter!«
Wir rannten zu dem Tunnel und bogen ein. Die siebente Abzweigung war die gesuchte. Im Laufen zog ich Grayswandir, denn die große metallbeschlagene Tür stand weit offen.
Ich stürmte hindurch, dicht gefolgt von Random. Der Boden des gewaltigen Raums ist schwarz und wirkt eben wie Glas, wenn er auch nicht so glatt ist. Das Muster brennt auf diesem Boden, in diesem Boden, ein komplizierter, schimmernder Irrgarten aus gekrümmten Linien, etwa hundertundfünfzig Meter lang. Mit weit aufgerissenen Augen blieben wir am Rand stehen.
Etwas war dort draußen, etwas beschritt das Muster. Ich spürte den kribbelnden Kältehauch, der mich immer überfällt, wenn ich das Gebilde betrachte. War es Dara? Ich vermochte die Gestalt nicht zu erkennen inmitten der Funkenfontänen, die immer wieder ringsum emporsprangen. Wer immer es war – es mußte jemand von königlichem Blute sein, denn es war allgemein bekannt, daß jeder andere vom Muster vernichtet wurde, und dieser Mensch hatte bereits die Große Kurve überwunden und beschäftigte sich gerade mit der komplizierten Serie von Bögen, die zum Letzten Schleier führte.
Die Flammengestalt schien mit der Bewegung auch die Form zu verändern. Eine Zeitlang widersetzten sich meine Sinne den winzigen unterbewußten Eindrücken, die zu mir durchdrangen. Ich hörte Random neben mir keuchen, und dieser Laut schien den Damm meines Unterbewußtseins zu brechen. Eine Horde von Impressionen überflutete meinen Geist.
In dem durchscheinend wirkenden Raum schien es zu riesiger Größe anzuschwellen. Dann schien es zu schrumpfen, zu ersterben, bis es fast nur noch ein Nichts war. Einen Augenblick lang sah es aus wie eine schlanke Frau – vielleicht Dara, deren Haar von dem Schimmer erhellt war, wehend, flatternd, knisternd von statischer Elektrizität. Doch im nächsten Augenblick waren das keine Haare mehr, sondern mächtige Hörner auf einer breiten gewölbten Stirn. Hörner, deren krummbeiniger Besitzer Hufe über den funkensprühenden Weg zu ziehen versuchte. Dann wieder etwas anderes . . . Eine riesige Katze . . . Eine gesichtslose Frau . . . Ein hellgeflügeltes Gebilde von unbeschreiblicher Schönheit . . . Ein Ascheturm . . . »Dara!« rief ich. »Bist du das?«
Meine Stimme wurde zurückgeworfen, und das war alles. Wer immer, was immer sich dort draußen befand, es mühte sich mit dem Letzten Schleier. In automatischer Reaktion auf die Anstrengung regten sich meine Muskeln.
Schließlich brach es durch.
Ja, es war Dara! Groß und herrlich anzuschauen. Schön und zugleich schrecklich. Ihr Anblick rüttelte an den Grundfesten meines Verstandes. Freudig hatte sie die Arme gehoben, während ein unmenschliches Lachen über ihre Lippen kam. Ich wollte den Blick abwenden, konnte mich aber nicht bewegen. Hatte ich wahrlich dieses – Wesen in den Armen gehalten, liebkost, beschlafen? Ich war von einem schrecklichen Widerwillen erfüllt und zugleich von einer starken Sehnsucht, wie nie zuvor. Ein überwältigender Widerstreit der Gefühle tobte in mir, den ich nicht verstand.
Dann sah sie mich an.
Das Lachen hörte auf. Ihre veränderte Stimme erklang.
»Lord Corwin. Seid Ihr jetzt Herr von Amber?«
Von irgendwoher verschaffte ich mir die Kraft zu einer Antwort.
»Gewissermaßen schon«, sagte ich.
»Gut! Dann erschaut Eure Nemesis!«
»Wer seid Ihr? Was seid Ihr?«
»Das werdet Ihr niemals erfahren«, sagte sie. »Dazu ist es nun ein bißchen zu spät.«
»Das verstehe ich nicht. Was meint Ihr?«
»Amber«, sagte sie, »wird vernichtet werden.«
Und sie verschwand.
»Was war denn das, zum Teufel?« fragte Random.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht. Wirklich, ich weiß es nicht. Dabei habe ich das Gefühl, daß es auf dieser Welt nichts Wichtigeres gibt als die Aufgabe, eine Antwort auf diese Frage zu finden.«
Er ergriff meinen Arm.
»Corwin«, sagte er. »Sie . . . es . . . hat jedes Wort im Ernst gesprochen. Und es wäre durchaus möglich, weißt du.«
Ich nickte. »Ich weiß.«
»Was machen wir jetzt?«
Ich steckte Grayswandir in die Scheide zurück und wandte mich zur Tür.
»Wir sammeln die Scherben auf«, sagte ich. »Das, was ich seit jeher zu erstreben glaubte, dürfte nun leicht zu erringen sein – ich muß es mir nun sichern. Und ich darf nicht auf die Dinge warten, die auf Amber zukommen. Ich muß die Gefahr suchen und beseitigen, bevor sie Amber erreicht.«
»Weißt du, wo du sie suchen mußt?« wollte er wissen.
Wir bogen in den Tunnel ein.
»Ich glaube, sie lauert am anderen Ende der schwarzen Straße«, sagte ich.
Wir schritten durch die Höhle zur Treppe, an deren Fuß der tote Wächter lag, und bewegten uns in der Dunkelheit über ihm immer wieder im Kreise, stiegen die Spirale empor zum Tageslicht.