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H.W. Franke

Die Glasfalle

Science-fiction-Roman

1

Einem gegenüber war alles andere bedeutungslos, und dieses eine stand unabänderlich fest: Der Major mußte sterben.

Das Kasernengelände war vollkommen eben und genau quadratisch. Vier Gebäudefronten umgrenzten es. Nur wenige der Gebäude, wie die Maschinenhäuser und die Magazine, besaßen Fenster, alle anderen wiesen mit leeren Mauern nach innen, und auch ihr Zweck war nicht bekannt.

Inmitten der Mauern lagen die Exerzierplätze, die Hindernisbahnen, die Wege, die Steinflächen und einzelne kreuz und quer gebaute Baracken. Die Gebäude waren grau, die Erde war gelb. Gelb waren auch die Uniformen, gelb war die Haut der Männer, und gelb war der Himmel, ein Himmel voll Dunst, der schwer und tief über dem Gelände hing. Die Kaserne war eine Welt für sich, eine Welt in Gelb und Grau.

Das Bataillon war auf dem großen Exerzierplatz angetreten. Es war sechs Uhr dreißig – die Zeit des Tagesaufrufs. Wie ein Block stand die Belegschaft vor dem Major. Hinten in Zehnerreihen die tausend Soldaten; davor, in drei Schritt Abstand, die hundert Korporale und davor, wieder in drei Schritt Abstand, die zehn Sergeanten. Der Major stand weit von allen entfernt, einsam und groß, hoch aufgerichtet ihnen zugewandt. Seine Worte, durch Kehlkopfmikrofon und Handlautsprecher verstärkt, dröhnten über den Platz. Er sprach von der Ehre des Soldaten, von der Pflicht, vom Gehorsam, von der Achtung vor dem Vorgesetzten. Er sprach jeden Tag solche Worte, und die Belegschaft nahm sie dankbar auf. Sie schöpfte aus ihnen Glauben, Freude, Begeisterung. Kraft für den schweren Dienst. Tapferkeit für die Waffenübungen, die Mutproben.

»... der Soldat besitzt nichts Wertvolleres als seine Ehre. Unablässig ist er bereit, sie zu verteidigen, um sie zu kämpfen. Unablässig bereitet er sich darauf vor, allem zu begegnen, was sie zu verletzen droht...«

Nach dem Appell würden sie wegtreten, um ihre Aufgabe zu erfüllen: zu den Schießübungen, zum Unterricht, zum Sport, zum Exerzieren, und immer noch, den ganzen Tag über, würden diese Worte in ihnen nachklingen. Der Dienst war schwer, am Abend fielen sie ausgepumpt und leer in ihre Betten, aber selbst noch im Einschlummern machte sie die Erinnerung an diese Worte glücklich.

»... der Gehorsam ist das Fundament der soldatischen Erziehung. Jeder ist ein Glied in einer großen Kette, die durch den Gehorsam zusammengeschweißt wird. Unverzüglich und unbeirrt gehorcht der Soldat seinen Vorgesetzten...«

Eintausendeinhundertzehn Männer standen bewegungslos unter dem gelben Himmel, der tief und schwer herunterhing, während der Major sprach. Eintausendeinhundertneun von ihnen brannten darauf, ihre Dienstbereitschaft zu beweisen, sich zu bewähren. Einer von ihnen dachte darüber nach, wie er den Major töten könnte.

Abel war der sechsundfünfzigste in der siebenten Reihe. Während er wie die anderen mit unbeweglichem Gesicht der Parole des Majors zu lauschen schien, arbeitete er im stillen an einem komplizierten Plan. Er hatte undenklich lange Zeit in der Kaserne gelebt, ohne daß sein Gehirn etwas anderes zu verarbeiten gehabt hatte als die Texte der Kampflieder, die Vorschriften zur Waffenreinigung, die Grundregeln des Soldatentums, die sie in den Unterrichtsstunden lernten. Jetzt war ihm, als ob sein Denken plötzlich von den eingefahrenen Geleisen abwiche, weiter und weiter, und sich in unbekannten bodenlosen Räumen verlor. Etwas bisher Eingeschlossenes war plötzlich ausgebrochen, ohne daß er es kontrollieren konnte. Es kreiste unablässig nur um eines – um den Tod des Majors. Sein Sterben war durchplant wie eine entscheidende, auf das unabwendbare Matt gerichtete Folge von Schachzügen, durchgerechnet wie ein System von Gleichungen mit mehreren Unbekannten, aus dem sich stets dieselbe Lösung ergibt, auf welche Weise man die Rechnung auch beginnt.

Die Spannung in Abel ließ ein wenig nach. Er bemerkte, daß der Major seine Rede beendet hatte. Fast eine Minute lang war es still. Dann kam der abschließende Befehclass="underline"

»Zum Tablettenfassen abtreten lassen!«

Jeden Tag und auch heute sprangen die zehn Sergeanten wie etwas Einheitliches, Zusammengewachsenes vor, machten kehrt und gaben das Kommando weiter. Die Salven ihrer herausgestoßenen Worte schossen über die Mannschaft hinweg. Die Starre zerschmolz in einem jähen Zusammenknicken; dann kam ein Moment des Chaos, des sinnlosen Aneinanderstoßens, des Drängens und Schiebens, und dann folgte das Gewirr aus pflichtbewußter Zielstrebigkeit und automatenhaftem Laufschritt, in dem, mit leicht gegrätschten Beinen und zusammengekniffenen Augen, der Major wie vergessen übrigblieb.

Zum erstenmal nach der schlaflosen Nacht und der ersten Dienststunde liefen Abels Gedanken etwas geruhsamer. Noch fühlte er keine Regung, nach Ursachen zu grübeln, nach Hintergründen zu forschen, aber zum erstenmal wunderte er sich über seine Gleichgültigkeit dem gegenüber, was seiner Veränderung zugrunde lag – und solcherart hatte er sie immerhin schon zur Kenntnis genommen. Dagegen war er sich über den Anlaß klar, wenn auch nur, weil dieser in seinem Plan eine gewisse Rolle spielte. Er war der Anknüpfungspunkt, von dem aus er Hilfe zu erlangen hoffte: jenes kleine, wahrscheinlich zufällige Ereignis am Vortag, bei der Tablettenausgabe.

Nun standen sie, genauso wie gestern, zugweise angetreten, vor den Schaltern an der Wand des Vorratsmagazins. Es würde etwas Ähnliches geschehen wie gestern zur selben Zeit, nur mit einem kleinen Unterschied: Es würde nicht nur ihn erfassen, sondern auch einen anderen.

Es gab zehn Öffnungen in der Wand, kreisrunde Löcher, aus denen kurze dachrinnenförmige, in schnabelartige Enden auslaufende Blechformen ragten. Ein Mann nach dem anderen stellte sich davor auf, legte die linke Hand mit dem um den kleinen Finger genieteten Kontrollring auf die Registraturplatte neben der Auswurfrinne, und, nach einem trockenen Rasseln aus dem Inneren des Gebäudes, kollerte das Plastiktütchen mit den Tabletten in die aufgehaltene Rechte.

Abel stand in der Reihe und wartete. Verstohlen musterte er seine beiden Nebenmänner. Arthur stand rechts von ihm, aus seinem Gesichtswinkel erblickte Abel nur das angezogene Kinn und die nahezu gerade Linie Stirn-Nasenrücken, die wie ein Dach über die Lippenpartie ragte. Kommt nicht in Frage, dachte er. Er wandte sich nach links. Austin war einen Zentimeter kleiner als er, sein Gesicht um eine Nuance dunkler pigmentiert als die Haut der anderen. Das Auffälligste waren die schwarzen Augen mit den mattblinkenden Lichtern darin. Aber diese Augen blickten starr – geradeaus ins Leere.

Abel entschied sich für Austin.

Als ihr Zug an der Reihe war und Abel das durchsichtige Plastiktütchen erhalten hatte, tat er fast dasselbe wie alle anderen. Er trat beiseite, riß es auf und ließ die Tabletten herausrollen. Nun lagen sie auf seinem Handteller, zwei große weiße, mit einer wachsartigen Substanz überzogen, die sie leicht in den Hals hinuntergleiten ließen, eine kleine braune, die süßlich schmeckte, und eine schwarze, kugelförmige von der Größe eines Schrotkorns. Abel steckte eine der großen in den Mund und schluckte; er fühlte sie in die Speiseröhre hinuntergleiten. Dann verschlang er die zweite und auch die kleine braune. Flüchtig fiel ihm auf, daß er keine Zähne hatte und daß auch seine Kameraden keine besaßen. Nur der Major hatte Zähne, die man bei seinen Kommandos schimmern sah. Aber das war jetzt unwichtig. Er blickte sich um ... der Augenblick war günstig, alle um ihn herum waren mit den Pillen beschäftigt, auch der Korporal sah weg... Abel schloß die Hand um die schwarze Kugel und steckte sie unauffällig in die Seitentasche seiner Jacke ... wieder blickte er sich um ... gelungen!