Das Schwerste kam noch. Er beobachtete Austin, der eben vom Schalter wegtrat und sich seiner Tüte zuwandte. Unauffällig stellte sich Abel neben ihn. Die beiden großen Tabletten hatte Austin schon verschlungen; jetzt griff er nach der schwarzen; offenbar wollte er die süße braune bis zuletzt aufheben, um ihren Geschmack länger auszukosten. Schnell drehte sich Abel um und stieß dabei mit dem Ellbogen nach Austins Hand. Die beiden Tabletten fielen zu Boden. Abel verfolgte den Weg der schwarzen. Als sie zur Ruhe kam, setzte er seinen Fuß darauf. Er trat fest zu und drehte ihn ein wenig – so wie man ein lästiges Ungeziefer zermalmt.
Austin bückte sich nach der braunen Pille und hob sie auf. Dabei sah er erschrocken auf den schwarzen Fleck, der auf dem Stein zurückgeblieben war, und konnte die Augen nur schwer davon lösen. Mechanisch steckte er die braune Tablette in den Mund. Schließlich blickte er Abel an, noch immer mit dem Ausdruck hilfloser Bestürzung. Abel zuckte die Schultern und wandte sich ab. Austin hatte die Pflicht, diesen Vorfall zu melden – aber vorderhand keine Gelegenheit dazu. Er durfte nicht sprechen. Keiner der gewöhnlichen Soldaten durfte jetzt sprechen. Erst um ein Uhr zehn, beim Mittagsappell, ergab sich die Möglichkeit, doch Abel hoffte, daß sie unbenutzt bliebe.
Inzwischen konnte Abel anderen Details seines Planes nachgehen. Bisher war er wie alle fest in den Maschen des Dienstplanes verstrickt gewesen. Seine Pflicht hatte ihn voll und ganz in Anspruch genommen, und er hatte sich in dieser schützenden Hülle aus Vorschriften, Kommandos und Drill wohl gefühlt – sie hatte ihn vor allen anderwärtigen Einflüssen geschützt, störenden, verwirrenden und daher schädlichen Einflüssen. Nun fiel ihm auf, wie viele Lücken es darin gab. Ihm war, als könnte er erst jetzt sehen, hören, fühlen, als wäre alles davor ein Traum gewesen, der einen Teil seiner selbst betäubt gehalten hatte, einen wichtigen, vielleicht den wesentlichen Teil seiner selbst. Aber jetzt war er wach, er fühlte das, was von irgendwo auf ihn einstürmte: Gefühle, Wissen, Erinnerungen, alles blaß, nicht greifbar: er wußte, daß ihn dieses Fremde völlig durcheinanderbrachte – aber er gab sich ihm hin.
Die Kompanie, zu der er gehörte, marschierte über die Betonstraßen, zwischen den Baracken hindurch. Die Männer fühlten sich eins mit ihrer Kompanie. Sie stampften ihre Stiefel in den Boden und marschierten über Appellplätze, steinbedeckte Höfe, Sport- und Exerzierfelder. Sie sangen die Lieder, die sie in den Unterrichtsstunden, von elf bis zwölf und von siebzehn bis neunzehn Uhr, gelernt hatten. Sie sangen sie im Takt der pendelnden Arme, der stampfenden Füße. Sie sangen, so laut sie konnten: die Texte, die sie auswendig gelernt hatten, ohne ihren Sinn zu verstehen. Texte von Gehorsam, Treue, Pflichterfüllung. Von Soldatentum.
Die Kompanie marschierte über die grauen Betonstraßen, über die fahlgelben Flecke rohen, unbebauten Bodens, und Abel marschierte mitten darin. Er sang die Melodie mit den anderen, aber leise sang er einen neuen Text: Der – Major – muß – sterben. Der – Major – muß – sterben. Er blickte geradeaus, auf den Nacken seines Vordermannes, Arthurs 6/56, und er sah mehr als sonst: Das Blickfeld war weiter, seine Augenwinkel waren saubergewischt, unsichtbare und undurchsichtige Scheuklappen schienen gefallen, und sein Gehirn registrierte das Wippen der Kolonne, die Falten in den straffen Uniformen der Soldaten, die sie bei jedem Schritt in wechselnde, kreuz und quer weisende Richtungen spannten, die blassen pulsierenden Streifen, die zwischen den Reihen der Marschierenden sichtbar wurden, das fahle Licht des sonnenlosen Himmels, den der scharfe Rand seines Helms abschnitt.
Er war ein Teil dieses Körpers, der marschierte, sang, lief, auseinanderstob, sich zu Boden warf, sich wieder zusammenschloß, marschierte, lief... Er erlebte es von seinem neuen, nach außen versetzten Standpunkt aus, und es war wie ein interessanter Unterrichtsfilm. Die eigentliche Fortsetzung seines neuen belebten Daseins lief aber erst beim Waffenreinigen nach dem Übungsschießen wieder an.
Vor dem Waffenmagazin hatten sie die Pistolen bekommen, nun hielten sie sich in den Unterkünften auf und reinigten sie. Jede bestand aus zwölf Einzelteilen, die sie mit verbundenen Augen auseinandernehmen und wieder zusammensetzen konnten. Am Ende der halben Stunde, die zum Waffenreinigen bestimmt war, überzeugte sich der Korporal davon, daß die Pistolen einwandfrei gesäubert und mit Molybdändisulfidpaste eingelassen waren. Nach der Prüfung sammelte er sie ein.
Abel brauchte eine Pistole. Das war der schwierigste Teil seines Plans, aber er hatte eine Lösung gefunden. Auf Abels Kontrollring war die Nummer 7/56 eingraviert. Das heißt, er war der siebentgrößte Mann des sechsundfünfzigsten Zuges, und er stand an siebenter Stelle, wenn der Zug, und das war gleichbedeutend mit der Belegschaft eines Zimmers, in einer Reihe angetreten war. Wenn der Korporal bei seinem Appell rechts begann – und das tat er immer –, kam Abel als siebenter dran. Nach ihm folgten noch drei Mann. Ihre Waffen konnte der Korporal in zwei Minuten prüfen. Das war zwar nicht zuwenig für Abels Zeiteinteilung; denn er benötigte zum Zerlegen und Wiederzusammensetzen der Pistole nur dreißig Sekunden, aber trotzdem mußte er einen Kniff anwenden, um den Vorgesetzten abzulenken. Dazu schien ihm die Nummer 9/56, sein Kamerad Allan, ein stumpfsinniger Bursche, der aber recht geschickte Finger hatte, am geeignetsten.
Abel besaß keine Uhr, und auch in der Stube befand sich nichts dergleichen; das Aufstehen, das Heraustreten, Anlauf und Abschluß aller Arten des Dienstes wie auch das Zubettgehen wurden durch Klingelzeichen angezeigt; eine Zentraluhr löste diese durch Funk aus. An dieser Uhr hingen auch die winzigen Lautsprecher, die die Korporale in die Ohrhöhlung geschraubt ständig bei sich trugen, aber die dadurch vermittelten Signale und Befehle blieben für die Mannschaft unhörbar. Deshalb beeilte sich Abel mit seinen Manipulationen an der Pistole. Er wischte mit den Fingern über die Sohlen seiner Stiefel und schmierte den Staub sorgsam ins Innere des Laufes und des Magazins. Dann beobachtete er den Korporal, bis ihm ein leises Zusammenzucken von dessen Augenlidern auffiel – das Zeichen zum Abschließen des Waffendienstes war eingetroffen. Und schon kam der Schrei:
»Achtung!«
Die meisten Kameraden hatten das Reinigen beendet und polierten nur noch die Außenseiten. Auf das Kommando »Achtung!« hatte sich jeder mit geschlossenen Füßen und angelegten Armen gerade aufgerichtet dem Korporal zuzuwenden. Eine Sekunde des Aufspringens und Aufstampfens – und alle standen still. Auch Abel.
»Zum Waffenprüfen angetreten!«
Aber die einzige winzige Sekunde hatte ihm genügt – er hatte seine Pistole mit jener Allans vertauscht, die hinter dessen Rücken auf der weißen Plastiktischplatte gelegen hatte. Hoffentlich hatte Allan auch diesmal wieder sauber gearbeitet! dachte er.
Es war klar, daß der Korporal jedesmal mindestens einen bestrafen mußte. Es konnte jeden treffen – ob nun die Pistole sauber war oder nicht. Um so sicherer aber traf es den, der wirklich nachlässig gewesen war.
Der Korporal stand vor Abel. Er nahm die Waffe aus dessen Hand und drehte sie langsam. Abel hörte sein Atmen. Die Augen mit der grau und weiß gesprenkelten Iris blickten weit geöffnet auf die Waffe. Die Finger strichen darüber hinweg und drückten den Abzug. Der elektrische Zündfunke verursachte einen Knisterlaut. Der Korporal gab Abel die Waffe zurück. Abel holte lautlos Luft. Er mußte weiterhin warten, bevor er wieder handeln konnte.
Es traf Allan so sicher wie das Schicksal.
»Was haben Sie sich dabei gedacht?«
Der Korporal fragte es mit gefährlich ruhiger Stimme. Allan starrte ihn hilflos an. Der Korporal rückte dicht an ihn heran.
»Hören Sie nicht? Was Sie sich gedacht haben?«
Ein Griff zum Schalter des Kehlkopfmikrofons.
»Warum antworten Sie nicht, Sie Drecksack? Sie sind wohl schwerhörig!«