Jetzt donnerten die Worte im Raum.
»Vortreten!«
Allan sprang aus der Reihe und nahm Haltung an. Der Korporal hielt den Lautsprecher dicht an Allans Ohr.
»Hören Sie mich jetzt besser? Geben Sie jetzt Antwort?«
»Ich war ungehorsam und bitte um Bestrafung«, sagte Allan.
Allmählich kam der Korporal in Rage. Wieder hob er das Megafon.
»Ich habe Sie gefragt, ob Sie jetzt besser hören! Warum antworten Sie nicht, Sie Schwein?«
Alle Mann wußten, was das bedeutete. Es war nur eine Zeremonie: das Vorspiel für die Urteilsverkündung. Das Urteil stand natürlich fest.
»Eine Stunde Musikzimmer.«
Der Gemaßregelte trat zurück in die Reihe. Er war dazu verdammt, die Ruhestunde zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr im Schallraum des Gefängnisses zuzubringen, der auch für das Training der Ausdauer und Selbstbeherrschung verwendet wurde.
Die Klingel schrillte. Der Korporal brach die Überprüfung ab.
»Vor der Baracke angetreten, marsch, marsch!«
Die Männer stürmten zur Tür hinaus und stellten sich in einer Reihe auf.
»Zur Waffenabgabe, im Gleichschritt marsch!«
Vor dem Magazin hielten sie. Sie mußten warten – zwei Züge waren vor ihnen angelangt und kamen vor ihnen an die Reihe. Dann reichte jeder seine Waffe dem Korporal, der sie aufnahm und in eine Wandöffnung steckte. Mit einem Klicken der Zählvorrichtung verschwand eine nach der anderen im Innern des Aufbewahrungsraums.
»Zur Unterkunft, vorwärts, marsch!«
Sie marschierten zurück.
»In die Stube, marsch, marsch!«
»Fertigmachen zum Sport!«
Die Soldaten eilten zu ihren Schränken, um die Turnkleidung anzulegen. Als sie sich umzogen, schob Abel etwas unter die Glaswollmatratze seines Bettes. Während sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf Allan konzentriert hatte, hatte Abel hinter seinem Rücken die Pistole auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Eine der Pistolen, die nun im Magazin lagen, war nicht mehr vollständig. Ihr fehlte die Batterie mit der Zündvorrichtung. Aber davon war äußerlich nichts zu bemerken.
2
Zuerst gab es nur den silbernen Nebel. Nichts als den konturlosen silbernen Nebel.
Einige Augenblicke strengte er sich so an, daß die dünne Schicht von Bewußtsein, die ihn getragen hatte, zersplitterte und ihn wieder in die bodenlose Dunkelheit fallen ließ.
Lange Zeit trieb er in der schwerelosen Leere.
Dann wogte wieder der Nebel. Und wieder mühte und peinigte sich etwas ihn ihm, um das Gestaltlose zu durchdringen.
Mit einemmal lösten sich schwarze Arabesken und weiße Kringel aus einem mit grauen Rechtecken ausgelegten Hintergrund, und dann, als wäre ein projiziertes Bild erst richtig eingestellt worden, fügte sich alles zu glasklarer Ordnung.
Er blickte in einen metallenen Kreis, der eine Milchglasscheibe einschloß. Ein Bügel ging davon aus, um den sich eine weißumsponnene Leitungsschnur schlängelte. Links davon stand ein trogartiger Rahmen – die offene Seite ihm zugewandt – das Innere von kreuz und quer gespannten Drähten durchzogen.
Das Äußere war ihm eher bewußt geworden als er sich selbst. Jetzt erst kam der Gedanke, daß seine Person existierte, daß sie sich vor diesen Dingen, vor dem metallischen Kreis und dem rechteckigen Rahmen, befand. Hastig versuchte er sich aufzusetzen, aber sein Wille stieß ins Nichts. Er versuchte den Kopf zu drehen ... es gab keinen Widerstand, doch auch nicht die geringste Reaktion.
Er richtete die Augen langsam nach rechts...
Da war Bewegung...
Inmitten eines Gewirrs aus silberglänzenden Röhren und Stangen hing ein roter kugeliger Gummibeutel, der sich blähte ... und zusammensank ... sich blähte ... und zusammensank. Das ging ganz regelmäßig vor sich; wenn er sich vergrößerte, wurde er zu –
Anmerkung des Herausgebers: Es mag auf den ersten Blick verwirrend erscheinen, daß nun unvermittelt auf den ersten Handlungsfaden ein zweiter folgt, der mit dem ersten scheinbar nichts zu tun hat. Diese Art der Darstellung zerreißt zwar den chronologischen Zusammenhang, hebt aber die psychologischen Gesichtspunkte um so besser hervor. Aus diesem Grund erschien es angebracht, diese Eigenart des Originals beizubehalten, was auch im weiteren Verlauf der Wiedergabe geschehen ist.
– einem prallen Ball, wenn er sich verkleinerte, bildeten sich Lappen, die wie die Rippen eines Fächers zusammenklappten. Dann entstand jedesmal ein feines raschelndes Geräusch, ähnlich dem Pfiff einer Maus.
Daneben stand eine andere Anordnung: Ein Kolben glitt langsam in einem Glaszylinder hin und her. Aus einer Zuleitung strömte eine rote Flüssigkeit hinzu und wurde von dem Kolben in ein schüsselartiges geschlossenes Gefäß gepreßt, in dem sie sprudelte und schäumte, ehe sie durch ein Sieb verschwand.
Ein Laboratorium?
Es gab Hebel und Schalter und Anzeigeinstrumente, Leitungen, Röhren ... also ein Laboratorium.
Wie kam er hierher? Was hatte er hier zu tun? Was war mit ihm?
Er schloß die Augen, und es dämmerten die Erinnerungen, aber sie brachten keine Erklärung. Die Vergangenheit drang beunruhigend in seine Festung der Stille und Wunschlosigkeit ein, und er verdrängte sie. Das Denken strengte an. Das Denken tat weh. Also: nicht denken. Sich dem Wohlbefinden hingeben. Er hielt die Augen geschlossen, und währenddessen erwachten langsam seine anderen Sinnesorgane, tranken das ein, was von außen sanft auf sie einströmte: Wärme, die ihn umschmeichelte, das Körpergefühl, das ihm den Eindruck des Schwebens vermittelte; ein unbekannter, aber angenehmer Geruch nach irgendwelchen aromatischen Chemikalien, ein leises einschläferndes Summen, dazwischen die kurzen Pfiffe des roten Balls. Was wünscht man sich mehr? Von seinen Erinnerungen blieb nur noch ein sagenhaftes Wissen um nervenzersetzende Betriebsamkeit, dumpfes Angstgefühl, pausenlose Hetzjagd; nur der Anflug eines Schattens – gerade genug, um ihn seine jetzige Situation doppelt angenehm empfinden zu lassen.
Er gab seinen Gedanken freien Lauf. Noch war die Grenze zwischen Wirklichkeit und Phantasie verwischt, und so erfüllten sie seine Wünsche, gaukelten ihm Dinge vor, die er gern sah, ließen ihn empfinden, was er mochte, ließen ihn erleben, was schön zu erleben ist – Abenteuer, wie aus einem spannenden Buch, nicht zu lebendig, um zu bedrücken, nicht zu theaterhaft, um zu langweilen. Geschehnisse rankten sich um Personen und Dinge, beschäftigten ihn in einer unterhaltenden Art, ließen ihn die Wonnen auskosten, die vor dem Erreichen des Erstrebten liegen, wenn kein ernster Zweifel daran besteht, es schließlich doch zu erreichen.
Später versuchten Stimmen in seine Welt einzudringen – eine feste befehlende und eine leise, nachgiebige, aber er verschloß sich ihnen, und sie verstummten. Der Halbschlaf ging in Schlaf über, und die Traumgestalten gewannen volle Herrschaft über ihn.
3
Die Zeit des mittäglichen Appells rückte allmählich näher. Elf bis zwölf Uhr – die Stunde der körperlichen Ertüchtigung. Heute war Hindernislauf angesetzt. Alle zehn Kompanien befanden sich auf der Rennbahn des Sportplatzes, die Soldaten marschierten, liefen, robbten über den Boden, kletterten über Hinderniswände und sprangen über die Gräben. Sie trugen volle Ausrüstung, schwere Stiefel, Riemenzeug, Behälter mit Gasmasken, Tornister mit Ballastgewichten, Helme aus Platiniridiumstahl. Die Korporale standen bei den Hindernissen und beobachteten mit dem Notizblock in der Hand. Im Zentrum standen die Sergeanten, sie bewegten sich langsam im Kreis, um ihre Kompanie im Auge zu behalten – es sah aus, als zögen sie diese an unsichtbaren Fäden, doch auch Gängelbänder hätten keine engere Verbindung aufrechterhalten können, als es die Kommandos taten, die aus ihren Megafonen prasselten. So explosiv die einzelnen Schreie auch kamen, so verflossen sie doch alle zu einem stetigen Knattern, verwischt durch den linden Zug der vom Boden aufsteigenden Luft, ergänzt durch die dumpfen rollenden Echos von den Häuserwänden. Aus dieser gewaltigen Melodie aber erklang für jeden der Männer die Stimme seines Sergeanten heraus wie ein Fanfarengeschmetter, und sie alle reagierten einhellig und prompt.