Jetzt war seine rechte Seite befreit. Von links hielten ihn noch die Schläuche, die zu den Behältern der Herz-Lungen-Maschine führten. Er ließ sich über den linken Bettrand gleiten. Es war nicht hoch, trotzdem betäubte ihn der Aufschlag sekundenlang.
Er rappelte sich auf ... kroch zum Wandschrank – die Geräte, an denen er hing, zerrte er hinter sich her. Dort, in einem Fach, lag, was er suchte: Er schlug mit dem Ellbogen die Scheibe ein und holte einige große Arterienklemmen heraus und die Schere, die neben dem Verbandsmull lag.
Gestern und heute hatte er die Handgriffe genau beobachtet, mit denen ihn der Oberarzt und Schwester Berthe losgeklemmt hatten. Er rollte das Bett beiseite und kroch, die Behälter wieder hinter sich herziehend, zum Schaltpult. Sorgfältig achtete er darauf, nicht ins Blickfeld des Videofons zu kommen. Gelegentlich warf er einen Blick hinüber – das Liebesspiel ging weiter, aber jetzt bedeutete es für ihn nur noch die Sicherheit, nicht gestört zu werden.
Er drehte die beiden Knöpfe, die die Funktion der künstlichen Lunge und des künstlichen Herzens regelten, auf Null, einen nach dem anderen, Teilstrich um Teilstrich. Er beobachtete sich – er spürte die verstärkten Bewegungen seiner Organe und die leichte Übelkeit, die ihn auch gestern und heute überkommen hatte, als er abgeschaltet worden war, aber sonst fühlte er sich gut.
Halb sitzend, halb liegend hob er die Klemmen und schraubte die Plastikschläuche knapp an seiner Haut zu, dann schnitt er sie unmittelbar oberhalb der Klemmen durch. Mit schwachem Röcheln entwich etwas Luft aus dem offenen Schlauchstück, das zur Lunge lief. Aus der Zuleitung zur Herzpumpe strömte ein dicker Strahl roten Blutes. Das Verbindungsstück zu seinem Magen war nirgends angeschlossen gewesen; ein wenig gelber Schleim quoll daraus hervor. Mit einem leeren Blick streifte er die Vorderseite seines Körpers. Er war keiner Gefühlsreaktion mehr fähig, er nahm nichts mehr auf, alles war ihm gleichgültig – seine Lage, sein Leben, Chris. Nur noch ein Wunsch glühte in ihm: den Arzt zu töten. Er hielt die Schere in der Faust. Er fror. Er kroch zum Bett. Mit einem Ruck riß er das Laken herunter und hüllte sich damit ein. Er stemmte sich auf die Knie empor und zerrte an dem Knauf ... die Tür schnarrte ... er fiel nach vorn...
Er lag auf dem Bauch. Etwas drückte in seinen Magen.
Da war der Gang. Das Licht erschien ihm schmutzig und grau. Das spiegelnde Glas der Fenster hielt es zurück wie eine Flüssigkeit. Nichts drang hinaus. Draußen war die Nacht. Lichter ... ein Eisenbahnabteil...
Nein: ein Raumschiff. Der Weltraum. Der Oberarzt.
Phil stand auf taumelnden Beinen, die er wie Stelzen bewegte. Die Hände stützten ihn von der Wand ab. Wand. Türen. Wand. Türen.
Ein grünes Licht. Das mußte der Aufzug sein. Er drückte den Knopf ... nichts rührte sich ... er wartete ... drückte nochmals... Heiser lachte er. Grün – freie Fahrt. Kuppeln, aufs Gas treten. Verkehrsschilder. Hupen. Die Windschutzscheibe ist trüb. Abblendlicht, Fernlicht. Schnee. Konfetti. Der Schutzmann winkt. Vorbei, vorbei. Parkverbot, weiterfahren. Das Maskottchen. Die Pendeluhr. Gas geben, dritter Gang. Lichter im Rückspiegel. Gas geben, schneller. Autobahn, Schnellbahn, Doppelspur. Bremsen. Sicherheitsgurte...
Er taumelte gegen die Tür, sie flog auf.
Jemand löschte das Licht... Jetzt war es wieder hell. Ein Lichtpunkt: dritte Etage. Er schlug mit der Faust darauf...
Er kauerte am Boden. Eine Kraft zwang ihn tiefer. Er lag auf der Seite, wie festgeklebt ... ein Ruck... Noch immer stieg die Kabine völlig gleichmäßig... War die Fahrt noch nicht zu Ende?
Der Gang da draußen stieg mit empor. Die ganze Etage stieg empor. Wie lange dauerte die Fahrt?
Ha, eine Täuschung! Er kroch heraus ... wollte aufstehen ... seine Knie zitterten, knickten ein...
Er kroch den Gang entlang.
Die Eisenbahn fuhr durch ein Tal. Die Lichter sanken hernieder und stiegen empor. Die Funken sprühten. Der Schweißbrenner. Der Mann am Schweißbrenner. Die Mayamaske. Die Augen in der Nacht. George Shearing. Der Orkan Dora. Das Gatter ist geschlossen. Die Spanische Reitschule. Bete und arbeite. Der Fuchs in der Falle...
Die Knie schmerzten. Er lag quer über etwas Hartem. Es war der Boden, der ihn noch immer emportauchte. Er arbeitete sich auf die Knie hoch und rutschte weiter. Er suchte den Oberarzt.
Auf den Türen waren Schilder: Rechenzentrale. Weiter! Gymnastikraum. Weiter! Bad. Weiter!
Eine Zange drückte ihm das Genick hinunter. Er schlug mit den Ellbogen auf den Boden und stemmte sich mit dem Kopf gegen die zwingende Kraft. Jetzt konnte er wieder weit genug hinaufblicken, um die Türschilder zu lesen.
Schreibzimmer! Assistentenzimmer. Sekretariat. Oberarzt.
Er kniete vor der Tür. In der rechten Hand hielt er die Schere. Mit der linken tastete er sich an der glatten grauen Kunststofffläche empor, dem Türknauf entgegen. Sie kroch höher, in ruckweisem Beugen und Strecken. Die Nägel kratzten ... die Hand rutschte ab.
So ging es nicht. Er mußte aufstehen! Er versuchte, aus der knienden Stellung in die Hocke überzuwechseln. Er setzte den rechten Fuß auf den Boden und verlagerte das Gewicht vorsichtig –
Die Muskeln strecken. Anlauf. Sieben Meter zehn. Sie müssen den Schwerpunkt nach vorn verlagern. Mit Triumph kann ich das auch. Der Alkoholspiegel. Die zersägte Jungfrau. Traktorführerinnenschule. Die Schneise wird breiter. Unters Eis getaucht.
Er war durch...
Er stand auf zwei fremden Beinen. Er ließ sich auspendeln. Das Gleichgewicht stellte sich ein. Er stand ganz ruhig.
Er schloß die linke Hand um den Knauf und lehnte sich mit dem ganzen Körper dagegen. Die Tür gab nach und öffnete sich langsam.
Fast wäre er aus dem Gleichgewicht geraten. Er richtete sich auf und sah durch wogende Wolken in den Raum. Es war eine kleine Kammer. An der rechten Wand ein Schreibtisch, halb darunter verborgen ein Drehschemel. Papierstöße, ein Kalender. Ein Aktenblock. Ordner. Gegenüber ein Kleiderständer, ein weißer Ärztemantel. Eine dick gepolsterte Tür...
Die Wolken vor Phils Augen wurden schwarz wie vor einem Gewitter. Sie kreisten. Der Wind blies sie beiseite.
Die Tür. Er trat einen Schritt vor.
Die Wolken kamen wieder, in schwarzvioletten Schwaden. Er wartete, bis der Wind sie vertrieben hatte.
Die Tür.
Er wagte noch einen Schritt. Er hielt an. Sammelte sich. Er horchte in sich hinein: Das Herz schlug mit kleinen spitzen Hammerschlägen. Die Lunge arbeitete wie eine Dampfmaschine. Er spürte, wie sich die Energie in ihm zusammenballte. Er brauchte nur so viel, um die Tür aufzureißen und dem Oberarzt die Schere in den Hals zu stoßen.
Jäh sprang ihn eine Sturmbö von der Seite an, und er stemmte sich dagegen. Ein, zwei Schritte ging er mit gesenktem Kopf gegen die weiche, drängende Wand, in den dunklen Nebel hinein.
Jetzt durfte er nicht mehr zögern! Er hob die Hand mit der rasierklingenscharfen, desinfizierten Wundschere. Seine Fußsohlen klebten am Boden, er brachte sie nicht hoch.
Mit einemmal rann die Energie aus ihm heraus wie durch ein Sieb. Er blieb als papierne Hülle zurück, zu keiner Bewegung fähig, halb zur Seite gedreht. Mit Entsetzen merkte er, daß er zweifelte. Er zweifelte, ob es ihm gelingen würde, überhaupt ins Zimmer hineinzugelangen. Die Füße hingen wie angeschweißt am Boden.
Es konnte doch nicht umsonst gewesen sein!
Fieberhaft flatterten seine Gedanken.
Er mußte etwas tun. Wenn er den Oberarzt schon nicht erreichen konnte, so mußte er etwas tun, um zu zeigen, daß immer etwas wach bleibt, das sich wehrt. Daß man es nie ganz töten kann.
Er konzentrierte seine gesamte Kraft in seinem rechten Bein, um es vom Boden zu heben. Er brachte es zwar nur einen Zentimeter hoch, aber das genügte, um es nach vorn zu drücken. Dann packte ihn wieder der Schwindel, und seine Linke tastete nach einem Halt. Sie blieb im weißen Stoff des Ärztemantels hängen.