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Er sah Abel an und fügte dann bedauernd hinzu:

»Ich fürchte, Sie werden nicht bei den Auserwählten sein.« Er klopfte ihm auf die Schulter. »Kopf hoch! Es geht ja nicht um den einzelnen – es geht ums Ganze. Es geht darum, daß das Soldatentum für immer bestehenbleibt.«

Der Major drückte auf den Knopf, und das Bild auf dem Leuchtschirm fiel in sich zusammen.

»Gehen wir!« sagte der Major.

Sie hatten das Zimmer des Majors wieder aufgesucht. Körperlich war Abel todmüde und konnte sich kaum aufrecht halten, aber seine Gedanken waren auf eine eigenartige fiebrige Art wach; vor das, was seine Augen wirklich sahen, schoben sich immer wieder einzelne Bilder und Eindrücke, Momentaufnahmen von Szenen, die er in den letzten Tagen und in den letzten Stunden erlebt hatte – die Uranstäbe und die künstlichen Hände, die Brutofen, das werdende Menschenkind, das einst Soldat werden sollte.

Abel stand vor dem Tisch und stemmte seine Fäuste darauf, um nicht zu fallen.

Der Major beobachtete ihn. Dann sagte er:

»Setzen Sie sich!«

Abel ließ sich auf einem Hocker nieder. Um sich anlehnen zu können, rückte er ihn an die Wand.

»Zigarette?« fragte der Major. »Nehmen Sie einen Schluck?«

Er holte eine Flasche aus dem Schrank und goß ein wenig farblose Flüssigkeit in einen Becher, den er Abel zuschob. Abel setzte das Glas an die Lippen – die Flüssigkeit roch scharf, aber nicht unangenehm, und als er einen vorsichtigen Schluck nahm, rann sie wie Feuer, aber herrlich belebend durch die Gurgel. Die Umgebung um ihn rückte ein wenig fort, und er fühlte sich angenehm müde. Er stützte den Kopf in die Hand, weil er so schwer war. Der Major ist doch ein feiner Kerl, dachte er gegen seinen Willen, wer hat das doch schon einmal gesagt?

»Wir wollen uns ein wenig unterhalten«, sagte der Major. »Sie haben mir viel zu erzählen. Wie kamen Sie eigentlich auf die Idee, mich erschießen zu wollen?«

Abel hätte gern geantwortet, aber seine Stimmbänder gehorchten nicht.

»Trinken Sie noch einen Schluck«, forderte ihn der Major auf und drückte ihm das Glas in die Hand. »Trinken Sie aus!«

Abel schüttete den Inhalt des Glases in sich hinein. Es schüttelte ihn, er spürte, wie die Flüssigkeit als Fremdkörper in seinem Magen stehenblieb. Es brannte ein wenig, doch es munterte ihn auf.

»Sie haben Ihre Pillen nicht ordnungsgemäß genommen – so ist das«, sagte der Major. »Aber weshalb? Das interessiert mich ungemein. Hat mein System einen Fehler?« Er sprach wie zu sich selbst. »Mein System hat doch keinen Fehler!« Er trat vor Abel und sagte: »Sie müssen mir helfen: Wie kamen Sie dazu, die schwarze Pille nicht zu nehmen?«

Abel hätte es ihm gern gesagt, aber er konnte es nicht. Er wußte die Antwort nicht. Was hatte ihn veranlaßt, die Pille nicht zu nehmen? Es mußte etwas so entfernt Liegendes gewesen sein, daß er es einfach nicht fassen konnte.

»Sie entwickeln allerhand Widerstandskraft«, sagte der Major. »Leider am falschen Platz. Aber fangen wir es anders an: Wie sind Sie hierhergekommen?«

»Durch das Maschinenhaus«, sagte Abel. »Die Tür war offen.«

»Die Tür war offen«, wiederholte der Major. »Gewiß. Warum sollte sie auch geschlossen sein? Sie hatten nichts im Maschinenhaus zu suchen. Wie konnten Sie sich über die Vorschriften hinwegsetzen?« Er ließ sich auf dem Bett nieder, zog ein Etui aus der Tischlade und entnahm ihm eine Zigarette.

»Rauchen Sie auch eine?« fragte er und bot Abel die offene Schachtel.

»Nein, danke.«

Der Major steckte eine Zigarette in den Mund. Ein Feuerzeug flammte auf. Er zog leicht die Luft ein und stieß dann einen Rauchring aus.

»Sie konnten die Vorschriften ignorieren, weil Sie die schwarze Pille nicht genommen haben. Das bringt uns nicht weiter. Also was anderes. Wir haben Ihren Kumpan Austin gefunden. Wissen Sie, wo?« Er wartete keine Antwort ab. »Natürlich wissen Sie, wo. Sie waren es ja, der die Schleuse zugemacht hat. Ist Ihnen klar, daß Sie unwahrscheinliches Glück gehabt haben, Abel?«

Abel nickte. Ja, er hatte unwahrscheinliches Glück gehabt.

»Wir haben Austin im Schleusenraum gelassen. Als abschreckendes Beispiel – falls es noch einmal zu etwas Ähnlichem kommt wie zu diesem peinlichen Vorfall gestern... Mensch, Abel«, rief er, »die Vorschriften haben doch ihren Sinn! Es sind doch keine Willkürmaßnahmen, die sich irgendein Narr aus den Fingern gesogen hat! Jedes Gesetz habe ich mir tausendmal überlegt und durchdacht, bevor ich es erlassen habe. Es gibt kein Kommando, das nicht die knappste und präziseste Form hätte. Es gibt keinen Schritt, der nicht, so wie er regelgerecht zu erfolgen hat, am geradesten Weg zum Ziel führte. Nichts ist überflüssig, alles dient seinem Zweck...«

Er zog heftig an seiner Zigarette.

»Also, wie war das mit Austin? Sprechen Sie!«

»Austin wollte hinaus. Weg von hier!«

»Hinaus. Unglaublich«, murmelte der Major. »Hinaus! Es gibt keinen Satz im Reglement, der dem Soldaten die Möglichkeit ließe hinauszukommen. Und wissen Sie, was das bedeutet? Es bedeutet, daß es falsch ist, nach draußen zu wollen. Es heißt...«

Es klopfte an der Tür.

»Was gibt’s?« fragte der Major.

Eine Frauenstimme fragte:

»Wünschen Sie jetzt Ihren Tee?«

»Zwei Tassen«, antwortete der Major.

Einen Moment Schweigen. Dann erklang es unsicher:

»Ich habe nicht verstanden ... sagten Sie zwei Tassen?«

»Bist du taub?« schrie der Major. »Zwei Tassen! Und zwar schleunigst!

Austin wollte also hinaus«, fuhr er fort. »Na schön. Ich werde daraus lernen. Es verrät mir, daß irgendwo in euch Burschen noch ein Funke Renitenz glimmt. Die sich nicht anpassen können. Die ewigen Revolutionäre. Außenseiter der Gesellschaft. Im Tierreich werden sie von den anderen ausgestoßen – wenn nicht zerrissen. Den Funken werde ich auch noch austreten, verlaßt euch drauf! Na schön. Wie kam Austin dazu, sich so zu vergessen? Ich meine:

Wie brachte er es fertig, etwas gegen die Vorschriften zu tun? Haben Sie ihn dazu gezwungen? Hat auch er keine schwarze Pille genommen?«

»Nein«, sagte Abel leise. »Ich habe die seine zerstört.«

»Zufällig oder absichtlich?«

»Absichtlich«, sagte Abel.

»Die Lawine ging also von Ihnen aus, Abel. Aber wie konnten Sie... Nun, eben, weil auch Sie Ihre Pille nicht genommen hatten. Wir bewegen uns im Kreis.« Er schwieg und dachte nach.

Es klopfte an der Tür. »Der Tee, Herr Major!«

»Ja! Komm rein!«

Eine Frau betrat das Zimmer. Sie trug ein Tablett. Es war die blonde Frau, die Abel schon kannte. Sie sahen einander nicht an. Als sie die Tassen auf den Tisch setzte, eine zum Major und eine zu Abel rückte, legte der Major seine linke Hand um ihre Hüften und zog sie näher an sich.

»Abel 56/7! Können Sie nicht aufstehen, wenn eine Dame hereinkommt?« Er brüllte, seine Gesicht färbte sich rot. »Lümmelt da wie ein... Achtung! Stillgestanden! Hände in Vorhalte. Fünfzig Kniebeugen!«

Abel war aufgesprungen, wie aus einem Traum gerissen. In Bademantel und Pantoffeln stand er da, die Füße parallel gerichtet, die Hände angelegt.

»Knie beugen! Stehen Sie auf Ihren Löffeln?«

Abel beugte die Knie, streckte die Knie, beugte die Knie...

Der Major schlug der Frau klatschend aufs Gesäß.

»Verschwinde«, sagte er.

Er stand auf und drehte sich zur Landkarte an der Wand. Seine Augen folgten den roten und blauen Linien, die sie als hieroglyphenhaftes Muster überzogen.