Später klingelte er. Dem Sergeanten, der daraufhin erschien, befahl er, indem er mit dem Daumen auf Abel wies:
»Ab mit ihm – ins Kino!«
16
Er befand sich lange in den dunklen, strömenden Massen, durch die nur gelegentlich ein trübes Licht hindurchglomm und wieder untertauchte wie ein Scheinwerfer in schmutzigem Nebel. Manchmal starrten ihn weiße Gesichter an. Geräusche drangen an sein Ohr, aber nur wenige erreichten den Raum seines dahindämmernden Bewußtseins. Er fühlte sich aufgehoben, getragen, zugedeckt. Wieder getragen. Er fiel, Türen schnarrten. Jemand schrie seinen Namen ... die Schreie kamen aus weiter Ferne. Er lag weich und warm.
Er schlug die Augen auf. Der Oberarzt sah auf ihn herunter. Hinter seinem Kopf erkannte er das Krankenzimmer, sein Krankenzimmer. Ihm war, als wäre er zu Hause.
In der Armbeuge spürte er einen leisen Schmerz. Schwester Berthe wischte seine Haut mit einem Wattebausch ab, dann beugte sie seinen Arm. Die Hand lag an der Schulter auf. Er sah zu, als gehörte sie nicht zu ihm.
Wieder blickte er den Oberarzt an.
»Mein Experiment ist gelungen«, sagte dieser. »Es hat kein positives Ergebnis gebracht, aber es hat seinen Zweck erfüllt. Ich rechne nicht mehr mit einer freiwilligen Mitarbeit. Übrigens bin ich keineswegs darauf angewiesen. Wahrscheinlich war es nur Sentimentalität von mir, und es ist besser so, wie es gekommen ist.«
Er wandte sich zur Schwester:
»Sie können gehen. Ihr Dienst an diesem Patienten ist beendet. Er braucht Sie nicht mehr.«
Schwester Berthe ging schweigend hinaus.
»Ich kann Ihnen übrigens eine gewisse Anerkennung nicht versagen: Sie haben eine erstaunliche Leistung vollbracht. Schade, daß Sie Ihren Willen in die verkehrte Richtung lenken! Aber vielleicht ist auch das nur Sentimentalität von mir. Willen kann nur einer haben – derjenige, der befiehlt. Nur er selbst weiß, wie klein der Spielraum ist, in dem er sich bewegt. Jede andere Willensäußerung stört die Ordnung – das war schon immer so. Hier bin ich die Ordnung. Wer gegen mich ist, erstrebt das Chaos.«
Zwischen das Gesicht des Oberarztes und Phil schob sich eine milchige Scheibe.
»Bald erreichen wir den unbekannten Planeten. Dann beginnt alles von vorn. Wenn du jetzt einschläfst, Abelsen, dann nimm etwas Tröstliches mit: die Sicherheit, daß in unserer neuen Welt jeder das bekommen wird, was er braucht. Es wird keinen Turm Babel mehr geben, keine Sintflut, keine Flucht. Bald sind wir am Ziel, das man nie richtig verstanden hat – im festen Gefüge einer zwar nicht göttlichen, aber menschlichen Ordnung.«
Die milchige Schicht vor Phils Gesicht wurde immer dicker. Er sah den Oberarzt nicht mehr. Die Welt löste sich in Stücke auf, die auseinanderschwammen wie Treibgut im Wasser, und Phil zerfiel mit ihr. Ein Teil nach dem anderen glitt von ihm ab. Ein Teil sah noch etwas Diffuses, Strömendes. Ein Teil nahm einen schwachen, dumpfen Geruch auf. Ein Teil wollte antworten – auf die letzten Worte, die gesprochen wurden. Die Antwort war da, aber nichts mehr, das sie hätte sprechen können.
Was von ihm übrigblieb, war entkleidet bis aufs Mark – es besaß keine Gliedmaßen mehr, keine Knochen, kein Fleisch. Es war durchsichtig und körperlos – ein Bündel weher Traurigkeit, ein Häufchen stummer Angst. Er trieb auf einem Laufband dahin, durch ein Labyrinth von Nebelwänden, gegen eine Wand gelber Glasscheiben, hinter denen blinde Wesen in einer Flüssigkeit zuckten. Die Falle. Sie schloß sich über ihm.
17
Zwei Korporale und der Sergeant brachten Abel in einen sechseckigen Raum. Zuerst sah es aus, als bestünde seine ganze Innenauskleidung aus einer einzigen Mattglasscheibe; dann erst erkannte man, daß der Boden, die Decke und drei Wände aus Spiegeln bestanden.
Ein Korporal riß die Arme Abels nach hinten, und ein Ring schloß sich um seine Gelenke. Ein Doppelbügel schnappte auch um seine Beine, unten, knapp über den Knöcheln, und dann klirrte eine Kette – ein Korporal verband beide Fesseln und zog sie zusammen. Abels Kniegelenke beugten sich, er kniete am Boden. Nun steckte einer der Männer von hinten die Arme unter Abels Achseln hindurch, knickte sie ab und verschränkte die Hände hinter Abels Nacken. Abel war bewegungsunfähig. Der andere zog einen Gummipfropfen aus einem Fläschchen, daran steckte ein kleines Pinselchen, und mit diesem strich er eine dicke durchsichtige Flüssigkeit in Abels Augen.
»Halt still«, sagte er, »sonst tut’s sehr weh!«
Mit einem geschickten Griff zog er das Lid von Abels rechtem Auge hoch und zwängte eine Haftscheibe hinein. Dasselbe tat er am linken Auge. Es schmerzte, aber nicht stark.
»Alles in Ordnung?« fragte der Sergeant und bückte sich zu Abel. Abel sah das Gesicht durch die gläsernen Scheibchen deutlich, doch stark vergrößert: eine Hand zuckte auf ihn herab, unwillkürlich wollte er die Augen schließen – aber es ging nicht; die Haftgläser waren so hoch gewölbt, daß sich die Augendeckel nicht über die Augäpfel senken konnten. Er sollte die Augen nicht verschließen können vor dem, was jetzt kam.
»Viel Vergnügen«, spottete der Korporal. Dann verließen die drei Männer den Raum.
Als sich die fugenlos schließende Spiegeltür hinter ihnen geschlossen hatte, erlosch das Licht, das bisher das Milchglas von hinten gleichmäßig erleuchtet hatte. Dann erschienen im Dunkel marschierende Stiefel, plastisch und farbig. Sie kamen von allen Seiten auf Abel zu. Sie waren auch an der Decke und unter dem Boden, auf dem er kniete. Zunächst war es weder schrecklich noch peinigend. Peinigend war nur die Angst vor dem kommenden Schrecklichen, das nicht ausbleiben konnte. Abel wußte nur nicht, was es sein würde.
Die Stiefel verschwanden, und dann trat ein Lichtkreis aus dem Dunkel, wurde heller und heller. Die Helligkeit strahlte durch die Augen in Abels Gehirn. Er drehte sich um, rutschte auf den Knien über den Boden, suchte eine Ecke, in der er geschützt war vor dem grausamen Licht, aber es gab keine, er war ihm überall preisgegeben. Er warf sich auf die glatte Fläche unter seinen Knien, sein Kinn schlug schmerzhaft darauf, aber auch unter ihm war die glühende Sonne. Sie schien rasend zu kreisen, manchmal linksherum, manchmal rechtsherum, oder auch beides zugleich. Er suchte sich zu schützen, indem er in das Spiegelbild seines Gesichtes starrte – eine Fratze mit ungeheuerhaften, vorspringenden Kugelaugen –, aber der Kreis stach von der Seite auf ihn ein.
Und dann bewegte er sich, nicht nur an der Wand, nein, auch im Raum. Er glitt vor und zurück, schlang sich rundherum, spiralte, immer rascher. Die Striche schrieben sich in Abels Gehirn, bildeten ein Netz von verworrenem glühendem Draht – die Skulptur eines Wahnsinnigen. Dann erlosch die Sonne, doch das Bildwerk flirrte noch, veränderte die Farbe, wurde grün, gelb, blau und blieb als tiefvioletter Schimmer zurück.
Die stampfenden Füße waren wieder da, sie bewegten sich hektisch, dazu ertönte Gesang: »Es ist so schön, Soldat zu sein...«, kreischend hinausgeschmettert aus Hunderten von Kehlen gehetzter, überanstrengter Männer.
Die Beine liefen jetzt nicht mehr auf einer ebenen Fläche, sondern bergauf und bergab, auf senkrechte Wände hinauf, in Abgründe hinein, dann schwenkte der Boden herum, und sie marschierten über die Decke. Schwindel erfaßte Abel. Er hatte das Gefühl, sich selbst mitzudrehen, er stemmte sich dagegen, sein Viagen hob sich, er würgte...
Da war es wieder ruhig ... die Ruhe der brennenden Sonne. Sie schwankte langsam zur Seite, hielt an, pendelte zurück. Dann war da eine zweite Sonne ... die erste war verschwunden ... oder war es die erste, die nur rasch ihren Platz gewechselt hatte? ... die zweite war da ... die erste ... jetzt ging es rasch, es hüpfte, es flimmerte. Zwei Sonnen flimmerten, manchmal im Takt, manchmal im Gegentakt ... ohne Ende. Sie waren keineswegs so hell wie der Feuerball von vorhin, aber jetzt war es das Flimmern, das quälte, unbeschreiblich quälte.