Abel hatte sich lange Zeit gewehrt, doch jetzt gab er es auf. Er lag auf die Seite gestreckt, ohne Denken, ohne Gefühl, ohne Kraft, ohne Willen – vielleicht war er ohnmächtig, aber seine Augen waren offen, und er sah, sah, sah...
Die vibrierende Sonne erlosch.
Die Stiefel kamen wieder, marschierten. Das Lied erklang.
»Es ist so schön, Soldat zu sein...«
Die Stiefel marschierten im Kreis, rundherum. Abel konnte nicht mehr erfassen, was geschah und was es bedeutete.
Die Stiefel marschierten in einem geschlossenen Kreis. An ihnen waren keine Körper; es waren nur Beine, zusammengewachsen zu einem riesigen marschierenden Körper. Ein ungeheurer Tausendfüßler aus Soldatenbeinen marschierte um Abel herum.
Abel lag auf einer Pritsche. Zwei Hände massierten ihn. Er schlug die Augen auf – stechender Schmerz fuhr ihm durch den Kopf, als Licht an sie kam, und unwillkürlich machte er den Versuch einer Bewegung, von der Lampe weg, zur Wand.
Etwas Kaltes traf seinen Körper, Wasser rann über ihn, er lag in einer kalten Lache, ein Schüttelfrost kam und ging.
»Er ist wieder bei Bewußtsein, Herr Major.«
Die Stimme kam von fern. »Gut. Lassen Sie mich allein.«
Abel drehte sich herum.
Durch eine Gallerte hindurch sah er den Major. Der Major stand an der Lampe und hängte ein Taschentuch darüber. Dann breitete er den Bademantel über Abel.
Es waren zwei kleine Gesten, aber Abel fühlte tiefe Dankbarkeit dafür. Der Major war gut.
»Tut mir leid, Abel«, hörte er die Stimme des Majors: leise und sanft. Sie klang in ihm nach: »Tut mir leid, Abel, tut mir leid, Abel, tut mir leid, Abel...«
»Wir mußten dich hart anpacken. Jetzt ist es nicht mehr so schlimm, nicht wahr? Jetzt ist es vorbei. Du brauchst mir nur noch zu sagen, wie du dazu gekommen bist, die Tabletten nicht zu nehmen. Hast du gewußt, daß sie dazu dienen, dem Soldaten den Gehorsam zu erleichtern? Hat es dir jemand gesagt? Ist vielleicht noch jemand da, der... Hat es dir jemand gesagt?«
Abel schüttelte den Kopf.
Der Major fuhr fort: »Es könnte natürlich auch ein Zufall sein. Ein seltsames Zusammentreffen widriger Umstände. Obwohl... Aber ich darf mich nicht mit der Annahme eines Zufalls zufriedengeben. Das siehst du doch ein, Abel. Ich muß sicher sein. Ich muß es aus dir herausbekommen. Es ist so, als ob etwas Böses in dir steckte, irgendwo in dir verborgen, und wir zwei müssen nun zusammen helfen, um es herauszufinden. Habe ich nicht recht?«
Abel nickte. Die Worte des Majors klangen überzeugend. Jetzt wußte Abel, warum er so berührt davon war. Der Major sagte »du« wie ein Vater.
»Das ist für uns beide schwer. Du mußt Schmerzen erleiden, und ich muß dir weh tun. Aber du weißt doch, daß sich das nicht gegen dich richtet, sondern nur gegen den Herd des Bösen, der in dir sitzt wie eine Geschwulst.
Du bist doch nicht für Illegalität und Anarchie, Abel?« fragte der Major.
Nein, Abel war nicht für... Nun ja, der Major verstand ihn schon.
»Du siehst doch ein, was es für Folgen haben kann, wenn ich eine Möglichkeit offenlasse, die aus irgendwelchen dunklen versteckten Trieben heraus zu Auflehnung führen könnte. Dies Ganze, was ich mühsam aufgebaut habe, würde zusammenbrechen. Die schwarze Tablette ist ein wichtiger Faktor in meinem System. Ohne sie kann ich eintausendeinhundertvierzehn Menschen nicht allein im Zaum halten. Menschen sind so unberechenbar und so dumm. Sich selbst überlassen, würden sie blind ins Verderben rennen. Sie brauchen pausenlos eine starke Führung, eine Kraft, die sie hält. Wenn sie vernünftig, wenn sie einsichtig wären, wäre kein künstliches Hilfsmittel dazu notwendig.«
Trauer schwang in der Stimme des Majors. Er setzte sich ans Fußende des Bettes.
»Und dann betrifft es vor allem die Zukunft. Es gibt niemand, der mich ablösen könnte. Einst, vor langer Zeit habe ich von einem Nachfolger geträumt – kurze Zeit habe ich sogar dich erwogen. Aber du kamst nicht in Frage; es gibt niemand, der mich verstehen kann. Ich muß das System so eindrillen, daß es von selbst weiterlaufen kann. Es gibt nur eine beschränkte Zahl von Anordnungen, die ich zu geben habe. Ich werde sie auf einer Magnettrommel speichern. Auf jede Meldung gibt es nur einen sinnvollen Befehl, wobei die Umstände zu berücksichtigen sind. Die Reaktionen als sinnvolle Befehle auf Meldungen lassen sich durch ein logisches Programm festhalten. Ich werde es ebenfalls in der Trommel speichern. Das Kommunikationsmittel werden die Sendeanlage, die Mikrofone und Lautsprecher sein. Durch sie wird gemeldet und befohlen. Die Entscheidungen trifft eine einfache elektronische Rechenmaschine. Alles ist genau durchdacht. Sogar meine Sonntagmorgenansprachen beginne ich schon zu sammeln.
Jetzt dürfte es für dich kein Geheimnis mehr sein, warum ich deiner Handlungsweise nachgehen muß. Warum ich dich hart anfassen muß.«
Abel nickte. Der Major hatte vollkommen recht.
»Ist es ein unwillkürliches spontanes Agieren, dessen Ursache in deinem Charakter, in deinem Gehirn sitzt? Ist es irgendeine Nachwirkung aus der Vergangenheit, die ich nicht kupiert habe? Ist es ein Fehler in meinem System, den ich übersehen habe? Ich muß darauf kommen. Wenn es an dir liegt – dich kann ich auslöschen, für alle Ewigkeit. Aber ein Versehen ... nein, das kann es nicht sein. Es darf keinen Spielraum zu einer echten Widersetzlichkeit geben. Eine unvorhergesehene Handlung, vielleicht schon ein wissentlich mißachteter Befehl ... die Folgen wären entsetzlich. Natürlich, ich werde einkalkulieren, alles, was sich voraussehen läßt. Aber kann man das Gesetzlose einkalkulieren, läßt sich das Chaos berechnen? Das ist das einzige, vor dem ich mich fürchte.«
Das Gesicht des Majors sah aus wie ein kantiger Block.
»Ja, ich fürchte mich«, setzte er hinzu. »Gegen die Unordnung kann man sich nicht hundertprozentig sichern. Sie könnte mein Werk vernichten. Ich muß sie für immer und ewig ausschalten.
Also, Abel, wie war das? Wie bist du auf die Idee gekommen, die Tabletten nicht zu nehmen? Nicht irgendeine von den Nähr- oder Vitamintabletten. Nein – sie, die maßgebliche, die entscheidende!«
Abel hätte dem Major gern geholfen. Er sah es jetzt ein: Es war etwas Böses in ihm. Er zermarterte sich den Kopf. In seinen Augen standen Tränen.
»Ich kann mich nicht erinnern«, flüsterte er.
»Du kannst dich nicht erinnern«, sagte der Major. Er sprang auf und schrie: »Du kannst dich nicht erinnern! Du willst dich nicht erinnern! Du Heuchler, du Schmutzstück, du Schweinskerl! Heraus mit der Sprache!« Er schnallte sein Koppel ab und ließ es klatschend auf den Körper Abels niedersausen. »Heraus damit! Wer hat dich angestiftet? Wie bist du dazu gekommen?«
Der Bademantel hatte sich geöffnet, das Koppel klatschte auf die nackte Haut. Im Takt der Schläge schrie der Major:
»Her – aus, da – mit, her – aus, da – mit...«
Abel rührte sich nicht. Er lag halb zur Wand gedreht. Er war ohnmächtig.
Der Major reckte das Kinn vor und sah den schmächtigen Körper Abels an. Dann schnallte er das Koppel an. Wieder setzte er sich aufs Fußende des Bettes. Er schloß die Augen und blieb dort einige Zeit hindurch unbewegt sitzen.
Draußen klangen Schritte.
Der Major ging zur Tür, riß sie auf.
Ein Sergeant meldete stramm:
»Ganze Belegschaft angetreten zur Parade!«
»Ist gut«, sagte der Major. »Ich komme.«
Er zog die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel im Schloß.
Der Gesang der wartenden Soldaten drang leise bis in die Gefängniszelle.
Abel kam zum Bewußtsein, als er merkte, wie er fror. Die Kälte stieg von der nassen Matratze auf und fraß sich tief in ihn hinein. Er tastete mit der Hand nach seinem Rücken und fühlte, daß die Haut abschnittweise eiskalt war. Er fühlte Striemen quer über seine Seite laufen, und als er sie berührte, begannen sie zu brennen.