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Sein Kopf war nicht ganz klar. Manchmal erfaßte er, wo er war, manchmal entglitt es ihm, und er machte schwache Versuche, darüber nachzudenken. Am Hintergrund seiner Augen standen Bilder, die nicht aus dieser Welt stammen konnten, und auch die Laute, die manchmal in seinen Ohren schwangen, waren Klänge aus einem unbegreiflichen Land.

Er merkte, daß die Bilder und Geräusche, der Schmerz und das Übelsein am schwächsten auf ihn eindrangen, wenn er sich nicht bewegte. Und so blieb er still liegen, wenn auch die Kälte in ihm immer höher stieg. Er hörte Stampfen von Stiefeln, Kommandos und Gesang, aber er unterschied nicht, ob es Illusion oder Wirklichkeit war.

Dann umfing ihn ein goldener Schleier, etwas Samtenes strich über sein Gesicht, etwas Warmes liebkoste seinen Körper.

»Steh auf!« rief eine helle Glocke. »Steh auf, komm mit! Rasch, beeile dich, sonst erwischt mich jemand hier.«

Es war keine Glocke, die da sang, sondern die Stimme eines Menschen, der etwas von ihm wollte, der schon wieder etwas von ihm wollte.

Er versteifte sich und wandte sich ab.

»So wach doch schon auf! Willst du denn nicht aus diesem kalten Loch hinaus?«

Jetzt spürte er wieder die Nässe in seinem Rücken. Er zog hastig den Bademantel eng um sich, und diese Bewegung führte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Seine Augen waren noch verschleiert, aber sie erkannten ein Gesicht, Augen, die ihn ansahen, einen Mund...

»Bitte, komm mit mir!«

Er hätte keinem Befehl folgen können, es war die Bitte, von der jene Fäden ausgingen, die ihn von seinem Lager emporzogen. Er saß am Bettrand, und schwarze Wellen verfinsterten in Schwallen sein Denken. Hände schoben ihm die Pantoffeln an die Füße, ein Arm hakte sich ein.

»Komm, bitte, komm!«

Die Frau führte ihn durch ein kurzes Stück Gang, um eine Ecke, eine Stufe hinunter, wieder durch einen Gangabschnitt. Die Sessel, der Aktenschrank ... hier mußte er schon einmal gewesen sein. Vier Türen nebeneinander in der Wand.

Er taumelte auf eine Couch. Es war wohlig warm. Das Licht angenehm gedämpft. Ein gefalteter rosa Lampenschirm. Ein Berg Kissen. Papierblumen in einem Bilderrahmen: das Farbfoto eines Hauses, eines kleinen Hauses in einer Reihe anderer, gleich aussehender kleiner Häuser. Zwei alte Menschen, die von einem Balkon heruntersehen.

Er fühlte sich warm zugedeckt, sein Kopf war in weichen, nachgiebigen Massen vergraben, es roch nach trockenen Blättern und Staub. Er schloß die Augen. Um ihn herum waren Bewegungen, leise Geräusche, Getrappel von raschen, eiligen Schritten, Rascheln von Stoff, Klirren von Tassen, Klappern von Besteck, leise gemurmelte Worte.

»Gleich ist’s soweit, hab noch ein wenig Geduld!«

Aber ja, er hatte Geduld. Er könnte für immer so daliegen, halb in wohliger Dämmerung, halb im Schlaf und dazu dem Wohlwollen hingegeben, das ihm von außen zuströmte.

Eine Hand glitt sanft unter seinen Hinterkopf, eine Tasse erschien vor seinem Mund, es roch würzig, und er trank in kleinen Schlucken das Heiße in sich hinein, das Wärme um sich ausbreitete und letzte Reste von Eis zerschmolz, die noch versteckt in seinem Körper saßen.

Er lag wieder in den Kissen, den Kopf leicht geneigt, und aus seiner Perspektive heraus sah er die Umgebung seltsam und äußerst anheimelnd. Die Zipfel des Polsters und daneben das Sternmuster eines Tischtuchs, die Fransen der gestreiften Decke, die sich mit den Streifen bunter Bucheinbände kreuzten, den eigenen Nasenrücken, und darüber gelagert eine bauchige Teekanne, eine Berg- und Tallandschaft aus dem gebauschten und gefalteten Mantel, der über seine Beine gebreitet war.

In dieser Wunderlandschaft hantierte die Frau mit schmalen weißen Händen, drehte sich dahin und dorthin, streckte sich zu einem Wandbrett, bückte sich zum Boden nach etwas, was von seinem Aussichtspunkt nicht zu sehen war.

Nun erschien das Gesicht wieder vor ihm. Der Schleier, durch den er noch immer schaute, machte es jung – er verwischte die bitteren Linien, glättete die Falten, ließ den Mund voll und weich erscheinen und brachte eine versunkene, längst vergessen geglaubte Schönheit ans Licht.

»Hast du noch Schmerzen?« fragte der Mund.

Abel schüttelte den Kopf. Er hatte keine Schmerzen mehr.

»Bleib bei mir«, bat er.

»Sei nur ruhig. Alles ist gut. Ich bleibe bei dir.«

Nicht nur der Mund sprach, auch die Augen sprachen, die Hände.

Abel ließ sich in die Kissen zurücksinken, die große Ruhe erfüllte ihn. Er war nicht allein. Bisher hatte er es nicht empfunden – das Alleinsein. Vielleicht hatte es tief in ihm gezehrt, ohne daß er es aussprechen oder auch nur denken konnte. Aber es war ja vorbei. Er spürte einen anderen Menschen bei sich, ganz nahe. Er brauchte ihn nicht zu sehen – das Fühlen ließ ihn die Nähe, die Zuneigung, die Zärtlichkeit viel unmittelbarer empfinden als das Sehen oder das Hören. Er schlief ein, und er erwachte – beides war gleich schön, das Sicheinsinkenlassen in die Geborgenheit oder das Sichaufschließen gegenüber dem ihn Umgebenden, ihm Dargebrachten.

Vielleicht war die Unruhe um ihn herum nur davon gekommen, daß er zuwenig gewußt hatte, daß er noch nicht bei den Engeln gewesen war? Was war demgegenüber noch wünschenswert, erstrebenswert, erkämpfenswert? Ganz leise regten sich Fragen – nach den Gründen dafür, warum das nicht ewig sein konnte – das, was jetzt war – früher, später, immer? Warum Umwege notwendig sind, bevor sich alles löst? Fragen nach früher oder später verdüstern die Stunde des Glücks. Fragen können Abgründe aufreißen und Wege verschütten, Fragen entzaubern.

Denn es war ein Zauber. Er versuchte die Gedanken zu verdrängen, die es ihm zuraunten, aber er hörte es: ein Zauber. Ein Zauber, der verhaucht wie eine Nebelwolke ... ein Windhauch, ein Atemzug ... verflogen ... vorbei.

Es war kein Zauber, es war Wirklichkeit, wenn auch zauberische Wirklichkeit. Das Wunderbare daran war eben das, daß es wahr war, daß er es wahrhaftig erlebte. Er fühlte die Weiche und Wärme der Kissen und Decken. Er fühlte die Frau neben sich. Er machte die Augen auf. Er sah die Frau. Ja, sie war noch da. Und sie war schön. Ein Engel. Es war Wirklichkeit. Kein Zauber. Gegenwart. Gegenwart mit einem Vorher, einem Gleichzeitig, einem Nachher.

»Warum hast du mich hierhergebracht?« fragte Abel.

Die Frau stützte sich ein wenig empor und sah ihn besorgt an.

»Sei still. Sprich nicht!«

»Bitte, ich muß es wissen. Warum hast du das getan?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich habe dich immer vor mir gesehen – seit jener Nacht... Wie lange ist es her?«

»Lange. Unermeßlich lange.«

Sie schwiegen. Dann sagte die Frau:

»Vielleicht war es Mitleid.«

»Mitleid«, wiederholte Abel flüsternd; es hörte sich an, als müßte er darüber nachsinnen. »Mitleid.«

»Als ich dich damals im Gang draußen traf, da wußte ich zwar nicht, wie es weitergehen würde, aber ich wußte, daß etwas geschehen würde. Aber ich sah auch das Ende voraus. Das Ende stand von vornherein fest.«

»Ist denn das Ende nahe?«

»Es hat schon begonnen.«

»Wie wird es aussehen ... ich meine: Wie ist es – das Ende?«

»Bitte, frag mich das nicht.«

»Gehört das ... jetzt ... ich meine diese Stunde, auch zum Ende?«

»Nein«, sagte die Frau. »Sie liegt außerhalb, außerhalb alles Voraussehbaren. Niemand hat sie vorausgesehen. Ich nicht, du nicht. Selbst der Major konnte sie nicht einkalkulieren. Wahrscheinlich war es das, was mich dazu veranlaßt hat – etwas außerhalb alles Berechenbaren zu tun. Wir können nicht wissen, was für Folgen etwas hat, aber alles hat Folgen, das ist sicher. Es sind Folgen, die wieder unberechenbar sind und selbst unberechenbare Folgen haben, und so geht das ewig weiter.«

»Und das willst du?«

»Das will ich. Wahrscheinlich bin ich so wie du. Denn auch du wolltest es – wenn auch anders als ich. Du wolltest den Major töten. Im Grunde genommen ist es dasselbe.«