»Kann es verhindern, daß das Ende kommt?«
»Nein, das ist unmöglich.«
»Hat es denn dann noch Sinn?«
»Das Ende betrifft nur einzelne – dich, mich und jeden. Das, was erhalten bleibt, ist etwas anderes – es ist die Hoffnung.«
Sie schwiegen lange, nur ihre Atemzüge waren zu hören. Ganz allmählich verrann die alles silbrig verschleiernde Benommenheit in Abels Gehirn. Sein Blickfeld wurde weiter – er sah nun nicht mehr nur das, was vor seinen Augen lag. Es gab auch das Außerhalb, das Beängstigende, das Üble. Er faßte das Handgelenk der Frau und hob es ein wenig auf – die Armbanduhr zeigte auf 11.45.
»Die Parade ist vorüber«, sagte er. Mit einemmal fühlte er sich wieder müde, trostlos, verloren. Seine Muskeln schmerzten, im Kopf hämmerte etwas monoton. Die Fragen waren nun wieder deutlich, er hätte sie formulieren können, aber das stetig klarer werdende Bewußtsein der Sinnlosigkeit der Fragen, die er hätte fragen können, aller Antworten, die er hätte bekommen können, aller Taten, die er noch tun könnte, errichtete eine Mauer um das matte Aufflackern seines Wünschens. Er stand an einem schwarzen Schacht bodenloser Hoffnungslosigkeit.
»Die Parade ist bald vorüber«, sagte er noch einmal. »Ich gehe in meine Zelle zurück. Du weißt, daß es das beste ist.«
Er streifte die Decke zurück und ließ sich nicht anmerken, wieviel Entschlußkraft ihn diese einfache Bewegung kostete.
»Bleib ruhig«, sagte er.
Er spürte, daß er jetzt trotz allem der Stärkere war. Er band den Gürtel seines Bademantels fest, zog die Pantoffeln an. Die Frau lag auf der Couch. Sie hatte sich zur Wand gedreht und hielt die Fäuste vor den Mund gepreßt.
Abel sah nicht hin. Er konnte nicht hinsehen. Er öffnete die Tür und ging.
Niemand befand sich im Vorraum. Er trat auf den Korridor hinaus. Rechts die erste Tür – das war der Eingang zu seiner Zelle. Er öffnete sie nicht. Ein klirrendes Fenster fesselte seine Aufmerksamkeit. Er trat vor und blickte durch die Scheiben.
Die grauen Gebäude lagen wie Felsen unter dem gelben Dunst des Himmels. Die Fenster sahen aus wie Eingänge zu Höhlen. Die grau zementierten Wege schnitten Rechtecke aus dem gelben Boden. Drüben am großen Appellplatz vor dem Waffenmagazin bewegte sich das ganze Bataillon wie ein einheitlicher Körper – ein Tausendfüßler marschierte auf den bebenden Zementwegen in einem geschlossenen Kreis um das Waffenmagazin herum.
Er marschierte an den hundert Korporalen, den zehn Sergeanten und dem Major vorbei. Der Major stand etwas über allen auf einem Postament. Er sah einen endlosen Zug Soldaten an sich vorbeiziehen. Sah er sie wirklich, oder blickte er durch sie hindurch, in irgendein aufregendes Geschehen: voll von Mannesmut und Soldatentum? Niemand konnte es wissen. Er stand zu fern von den andern. Er hielt seine Hand grüßend an die Mütze, unbewegt, ein Standbild aus Stein gemeißelt.
Der Boden zitterte. Abel spürte es bis hierher. Abwechselnd stießen tausend linke und tausend rechte Füße mit harten Stiefelabsätzen wie Hämmer auf die Erde nieder. Tausend. Abel fiel es jetzt erst auf: nicht tausend, sondern neunhundertachtundneunzig. Zwei fehlten. Austin und er.
Ein leises Zittern lag in Abels Augenwinkeln, das Zittern eines nicht bis zur Oberfläche durchdringenden Sichregens von Erschütterung. Zwei fehlten – und doch war das Ganze betroffen. Es war nicht mehr vollständig, nicht mehr makellos, es saß etwas in ihm, das weiterwirken würde, über Generationen hinweg, unausrottbar. War das die Hoffnung? Es mußte die Hoffnung sein, von der die Frau gesprochen hatte. Aber es war keine Hoffnung für den einzelnen.
Abel wandte sich um und ging rasch vor, an der Tür zur Zelle vorbei, durch den Vorraum mit den Stahlrohrsesseln, in die Halle mit der Maschinerie. Er trat auf den Platz vor das Pult und legte die Hand auf den Hebel.
»Versinken in der Dämmerung. Bunte Kissen. Die gestreifte Decke. Das Bild an der Wand...« Er sprach tonlos, aber laut und deutlich. Der Lochstreifen schlängelte sich summend aus dem Schlitz.
»... die Wärme. Der Geruch von Tee ... der Geschmack. Das blonde Haar, das Gesicht. Die Augen, der Mund, die Hände. Ihre Hände, ihre Augen, ihr Mund.«
Relais klickten, ein Lochstreifen lief. Dann war es still.
Abels Hand umklammerte den Griff des Hebels. Es blieb still. Er wartete. Jäh packte ihn Angst, die Maschine könnte ihn im Stich lassen...
Schließlich heulte die Maschine auf. Eine Klappe öffnete sich, und dann raschelte etwas – das Plastiktütchen. Hastig griff er danach und steckte es ein. Dann ging er zurück, durch den Vorraum, in den Korridor. Er sah nicht mehr nach dem Fenster. Er öffnete die Tür zu seiner Zelle und schloß sie. Geistesabwesend sah er sekundenlang das einzige Möbelstück, das eiserne Bettgestell, an. Dann schob er das Kissen zurecht. Es fühlte sich kalt an. Er setzte sich auf den Bettrand, streckte sich lang aus.
Seine Finger zerrten am durchsichtigen Plastikstoff des kleinen Behälters, rissen ein Loch hinein. Fünf Tabletten rollten in seine Hand. Er steckte sie alle fünf in den Mund und schluckte sie. Langsam spürte er sie in den Magen hinuntergleiten. Er hob einen Arm über das Kissen, bettete den Kopf hinein und schloß die Augen.
Jetzt konnten sie kommen. Er war bereit.
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DOKUMENT 7/12
M (Aufschrift am Anfangsstück des Magnetbandes) Der Kampf ist der Vater aller Dinge.
Sie haben diesen Satz oft gehört, und doch werden Sie sich der Tragweite der tiefen Erkenntnis, die daraus spricht, kaum bewußt geworden sein.
Der Kampf ist der Vater aller Dinge.
Das beginnt viel früher als bei den Raketenschlachten, den Bombenteppichen, dem Granatfeuer, den Torpedoangriffen. Es begann sogar früher als bei der Muskete, der Armbrust, dem Blasrohr, dem Speer, dem Knüppel, dem Faustkeil. Es begann, als es noch keine Faust gab, kein Horn, keine Kralle, keinen Stachel. Es begann an der Wurzel dieses Lebens, das das unsere ist. Es sitzt so tief in uns, daß es uns nicht gäbe, wäre nicht der Kampf.
Der Kampf ist der Vater aller Dinge.
Das heißt: der Stärkere gewinnt, der Schwache geht unter. Das klingt grausam, und das ist es auch. Aber es ist die Wahrheit. Es ist die Notwendigkeit.
In der Wissenschaft hat es einen anderen Namen. Es heißt: Prinzip des Überlebens.
Ich bewundere die Naturwissenschaftler. Sie haben sich noch nie um eine Wahrheit gedrückt, so unangenehm sie auch war. Aber man braucht kein Naturwissenschaftler zu sein, um sie zu verstehen. Wer sie nicht tief in sich spürt, die Freude am Kämpfen, die Lust des Siegens und des Vernichtens, der mag sich die Bedeutung dieses Seinselements logisch erklären. Ich weiß nicht, ob dieser Beweis stärker ist und ob Sie ihn verstehen können, aber ich will es versuchen. Es ist sehr wichtig für Sie, daß Sie die lenkende Kraft unseres und auch Ihres Lebens verstehen.
Die Ausgangsbasis ist die Evolution. Das heißt, die Entwicklung der Arten. Einst hat man darüber gestaunt, daß die Erde erstaunlicherweise alles das besitzt und darbietet, was die Lebewesen brauchen – also etwa Luft, Wasser, Kohlendioxyd, Schwefel, Phosphor und die Metalle Kalzium, Kalium, Eisen, Magnesium und wie sie alle heißen. Das sind nämlich genau jene Bestandteile, aus denen sich die Tiere und Pflanzen zusammensetzen. Und das gilt für vieles andere auch noch – die Temperatur ist die richtige, der Druck, die Schwerkraft und so weiter. Heute weiß man längst, daß es nicht die Erde ist, die sich dem Leben angepaßt hat, sondern das Leben, das sich der Erde angepaßt hat. Durch die Erforschung fremder Himmelskörper mit Raketensonden, aber auch durch Laborversuche wissen wir heute, daß es sich auch völlig andersartigen, ich wiederhole: völlig andersartigen Bedingungen anpassen kann. Es ist wohl selbstverständlich, daß es dann auch ganz andere Wege geht, zu ganz anderen Formen führt. Der Mechanismus dieser Anpassung ist jener der Evolution.