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Sein Traum war nicht so angenehm gewesen wie das Dahindämmern in halbwachem Zustand, aber er konnte sich keiner Einzelheiten entsinnen. Er öffnete die Augen und schloß sie sofort wieder – eine gleißende Sonne blendete ihn. Er versuchte den Kopf abzuwenden, aber das gelang ebensowenig wie das letzte Mal. Nach und nach erprobte er seine Muskeln – der Erfolg war nicht ermutigend. Die Zehen und die Finger – das war alles, was seinem Willen gehorchte. Und die Augen.
Atmete er? Er spürte nichts davon. Es war, als wäre sein Brustkasten erstarrt. Und dennoch erstickte er nicht. Es war unerklärlich.
Er bewegte die Finger und die Zehen, krümmte sie, streckte sie. Zuerst ging es nur millimeterweise, allmählich aber gewann er die Herrschaft darüber.
Er versuchte sich ein Bild zu machen, welche Stellung er einnahm... Er schien zu liegen. Von seinem Leib spürte er nichts, aber die Beine waren ausgestreckt. Auch die Arme empfand er als gestreckt, und zwar weit ausgebreitet, wie gekreuzigt.
Er setzte das Spiel mit Fingern und Zehen fort, und endlich stieß die Kuppe seines rechten Mittelfingers auf Widerstand ... sie berührte etwas. Heftiger mühte er sich darum, die Finger durchzukrümmen, und dann lagen auch der Zeige- und der Ringfinger auf etwas Hartem, das aber ein Stück weiter zurücklag als der Widerstand am Mittelfinger. Auch dieser Gegenstand war hart, aber er gab nach... Etwas schnarrte leise.
»Sie sind wach«, sagte eine Stimme. »Das hat lange gedauert...«
Sprechen, fiel ihm ein ... kann ich sprechen?
»Bleiben Sie ruhig! Es kommt alles wieder in Ordnung.« Die Stimme war sanft und angenehm anzuhören. Sie sollte weitersprechen!
»Mit jedem Tag werden Sie sich besser fühlen. Der Doktor wird gleich nach Ihnen sehen!«
Er war in einem Spital. Jetzt wußte er es. Ein Spital? Er war krank. Oder verwundet. Was war mit ihm geschehen?
»Versuchen Sie nicht zu sprechen! Bald wird es von selbst gehen. Sie brauchen nichts zu sagen. Zwinkern Sie mit den Augen, wenn Sie mich verstehen!«
Er senkte kurz die Augenlider. Er hatte verstanden.
»Fühlen Sie sich gut? Oder brauchen Sie etwas? Haben Sie Schmerzen?«
Er hatte keine Schmerzen.
»Sie können ja gar keine Schmerzen haben«, sagte die Stimme. »Dr. Myer macht das schon.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. »Ich bin Schwester Christine. Alle nennen mich Chris. Wenn Sie etwas brauchen, drücken Sie wieder den Knopf. Ich bin allein für Sie da.«
Kurz erschien ein Gesicht in seinem Blickfeld. Braune Augen, eine gesunde, leicht gebräunte, an den Wangen rosa schimmernde Haut, ein fraulicher Mund, eine Welle blonder Haare, unter einem Häubchen hervorquellend. Das Gesicht verschwand. Es rasselte leise. Stille – leises Summen und stetige leise Pfiffe.
Chris. Sie war für ihn da. Ganz stark fühlte er wieder die Zufriedenheit, die seine Umgebung in ihm aufkeimen ließ.
Er war krank. Nun gut – es war nicht zu ändern. Er würde wieder gesund werden. Er hatte es sich nicht gewünscht, aber wenn er gewußt hätte, wie es war, hätte er es sich gewünscht. Jetzt erst konnte er die Männer verstehen, die absichtlich eine Prise eines radioaktiven Aerosols einatmeten oder ihre Haut mit Phosphor bestrichen und anzündeten. Aber was er bisher von den Lazaretten gehört und gesehen hatte, vertrug sich nicht mit dem, was er jetzt erlebte. Ja, wenn er ein Staatsmann oder ein General gewesen wäre! Doch er war nur Leutnant – Leutnant der Reserve – und präsentierte keineswegs einen besonderen Wert. In dieser Zeit, in der Tausende in Sekunden zerrissen, zerstäubten, verglühten, kam es doch auf einen nicht an. Irgend etwas Unerklärliches mußte sich ereignet haben – während er bewußtlos dagelegen hatte. Aber es konnte nichts Böses gewesen sein – da man ihn, einen unbedeutenden Mann, so verschwenderisch betreute.
Er dachte an Chris. Einige freundliche Worte. Ein nettes Gesicht. Es war schön, so jemand um sich zu haben. Er hatte viele Bekannte und auch einige Freunde, aber niemand stand ihm im Moment so nahe wie Chris. Er malte sich aus, welche Figur sie haben müßte, wie sie sich bewegte. Er stellte sich vor, wie er sich mit ihr unterhielt. Der Wunsch zu sprechen wurde stärker. Er war sehr müde, er mußte schlafen. Er fühlte, wie ihn die Müdigkeit übermannte, aber bevor er einschlummerte, nahm er sich vor, wieder sprechen zu lernen...
Er mußte schon eine Weile wach gelegen sein, als ihm das in den letzten Stunden Erlebte in den Sinn kam und ihm dadurch die Gegenwart bewußt wurde. Dann entsann er sich der Krankenschwester und seines Wunsches, sprechen zu können. Seine Hoffnung flackerte hell auf, als er sogleich die Zunge und die Lippen bewegen konnte. Aber seinem Mund entsprang kein Ton. Irgend etwas fehlte noch, und er analysierte das, was sich so einfach sprechen nennt, zergliederte es in Funktionselemente, um ihm auf die Spur zu kommen, und dann merkte er, daß ihm die Luft fehlte. Er hatte keine Luft, um sie über die Stimmbänder gleiten und in der Mundhöhle schwingen zu lassen. Er konnte nicht Atem holen und nicht ausatmen. Seine Nasenflügel ließen sich blähen, aber seine Lungen nicht. Etwas war mit ihm noch nicht in Ordnung.
Er dachte darüber nach und übte inzwischen die Mundbewegungen. Er befahl ›a‹, und seine Lippen öffneten sich zu einem Kreis, er befahl ›e‹, und sie zogen sich etwas zusammen, während sich ihnen die Zunge entgegenhob... Er ging zuerst die Vokale durch und dann die Konsonanten. Wenn er es gefunden hatte – das, was er tun mußte, um Luft zu holen –, dann wollte er sofort sprechen können. Er hatte keine Angst – ihm konnte nichts Schlimmes widerfahren sein –, sonst hätte man ihn nicht unter die Behandlungswürdigen eingereiht. Vielleicht eine kleine Lähmung, die sich bald gab...
Er übte weiter und kam darauf, daß zu jedem Buchstaben eine ganz bestimmte Mund- und Zungenstellung gehörte. Es war wie ein verschlüsseltes Alphabet. Ob man es verstehen konnte? Natürlich konnte man es verstehen – daß er nicht schon längst darauf gekommen war! Schnell tastete er mit den Fingern nach dem Druckknopf.
»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Chris, und ihr Gesicht beugte sich über ihn. Seine Lippen formten die Worte:
»Verstehen Sie mich?«
Ihre Augen blickten besorgt.
»Bemühen Sie sich nicht zu sprechen – es geht noch nicht«, sagte sie.
Ich will nicht sprechen, nicht normal sprechen, dachte er, aber sie muß doch auch so verstehen... Er begann noch einmal.
»Verstehen Sie mich?«
Der besorgte Ausdruck ihrer Augen verschwand plötzlich – es war nur noch wache Aufmerksamkeit darin, sie verfolgte gespannt die Lippenbewegungen. Dann sagte sie:
»Ja, ich kann verstehen. Ich kann es ablesen.«
Er schloß einen Augenblick tief befriedigt die Augen. Dann fragte er auf seine stumme Weise:
»Wo bin ich? Was ist geschehen?«
Sie verstand sofort.
»Ich werde Ihnen alles genau erzählen«, antwortete sie. »Aber Sie müssen noch etwas Geduld haben. Es strengt Sie zu sehr an. Ich verspreche Ihnen, daß ich alles erzählen werde.« Sie hielt einen Moment inne, ihre Augen blickten jetzt an ihm vorbei, als koste es ihre ganze Konzentration, ihre Gedanken von irgend etwas abzuhalten. »Sie müssen jetzt ganz ruhig sein.«
Er spürte, wie müde er schon wieder war. Mit letzter Kraft formte er die Worte:
»Bleiben Sie noch bei mir, bitte.«
»Ich bleibe noch«, versprach sie. Ihr Gesicht verschwand aus seinem Blickfeld, und er wußte nicht genau, ob es nur deshalb war, weil ihm die Augen zufielen.
»Ich setze mich hierher«, sagte das Mädchen. »Ich bleibe bei Ihnen, bis Sie fest schlafen.«
Chris war nicht mehr da, als er aufwachte. Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, aber er fühlte sich angenehm gestärkt. Am liebsten hätte er gleich wieder den Knopf gedrückt, aber er bezwang sich. Statt dessen probierte er, ob seine Körperbeherrschung Fortschritte gemacht hatte. Finger und Zehen konnte er schon ordentlich regen, und noch etwas kam hinzu: Seine Nackenmuskeln zuckten, wenn er sie anzuspannen versuchte. Das Zusammenziehen dieser Muskeln – das hätte bedeutet, daß er ein wenig mehr von seinem Krankenzimmer gesehen hätte. Er wußte ja nicht einmal, woher das Licht kam, ob durch ein Fenster oder von einer Lampe. Nachdem er sich vergeblich bemüht hatte, den Kopf zu heben, glückte ihm unvermutet etwas anderes, an das er nicht gedacht hatte: ihn zu drehen. Zunächst nach der einen Seite, nach links – da standen würfelförmige und zylindrische Apparate oder Behälter, aus denen Leitungen, Drähte und Schläuche auf ihn zuliefen. Er vermochte nicht zu sehen, wohin; dazu reichte der Drehwinkel seines Kopfes noch nicht. Nach einigen Minuten wandte er den Kopf zur anderen Seite, nach rechts. Sein Blick fiel auf eine Art Schaltpult, das schräg neben ihm stand: Verschiedene Skalen waren darin eingelassen, darüber tanzten Zeiger, sprangen Ziffern eines Zählwerks, manchmal einzeln, manchmal rasch hintereinander, und auf mehreren kleinen, kreisrunden Leuchtschirmen schossen und glitten Zacken auf und nieder wie Wellenkämme. Und auch von hier aus liefen ein paar Leitungen auf ihn zu.