Er lachte leise und fuhr fort:
»Ich könnte Sie Ihr ganzes Leben an dieser Maschinerie hängen lassen. Aber ich weiß ganz genau, daß diese Aussicht nicht sehr erfreulich klingt; Sie brauchen keine Sorge zu haben. Es gibt genug konservierte Organe – dafür hat der Krieg gesorgt. In den nächsten Tagen setze ich Ihnen eine vollständige Ausrüstung ein. Ein starkes Herz, wahrscheinlich ein besseres als Ihr altes. Und eine gute Lunge. Ich habe sie heute ausgesucht, sie sind schon aufgetaut und liegen in der Nährlösung. Vor einer Stunde habe ich das Herz für kurze Zeit probeweise zum Schlagen gebracht. Das ist sehr eindrucksvoll – monatelang, vielleicht jahrelang war es tot, und dann jagen Sie einen Stromimpuls hindurch, und es wird wieder lebendig.«
Er ließ den Kopf des Kranken hinuntersinken. Phil hatte die Augen geschlossen.
»Sie sind ein kräftiger Mann, Abelsen, und können schon einen Puff vertragen«, sagte der Arzt. »Ich bin für Offenheit und Wahrheit – deshalb habe ich Ihnen nichts verschwiegen. Der moderne Arzt kommt dem Patienten oft wie ein Ingenieur vor, der fortschrittsbegeistert an seinem Material herumexperimentiert und der sich von verblendetem Ehrgeiz leiten läßt, immer kränkere und funktionsunfähigere Menschen durch allerlei Tricks am Leben zu erhalten, ganz gleich, ob dieses Leben noch menschenwürdig ist oder nicht. So bin ich nicht. Mir geht es um den Menschen in seiner natürlichen Form und Handlungsfreiheit. Mir geht es darum, das Höchste und Wertvollste des Menschengeschlechts zu erhalten. Ich sage Ihnen ganz offen – ich hätte Sie nicht behandelt, wenn ich Sie nicht vollständig wiederherstellen könnte.«
Seine Hand lag auf einem Regelknopf, er beobachtete einen Zeiger, als er den Knopf ein wenig drehte.
»Ich habe dafür gesorgt, daß Sie sich wohl fühlen. Wir verfügen heute über chemische Mittel, mit denen wir alle Gefühlseindrücke, gleichgültig ob körperliche oder emotionelle, fast beliebig steuern können. Sie haben also nichts zu befürchten, keine Angst und keinen Schmerz. Und ich verspreche Ihnen nochmals – Sie werden wieder ein vollgültiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft sein.«
5
Abel wußte nicht, wie spät es war, aber es hatte lange gedauert. Er hoffte, daß der Nachtalarm diesmal nicht zu früh kommen würde. Er lag im obersten Stockwerk eines der dreistufigen Betten und war von unten schwer zu sehen, selbst, wenn es unvermutet licht wurde. Es war nicht ratsam, ohne zwingenden Grund das Bett zu verlassen, aber er begann die Matratze von der Wand abzurücken, die Matratze aus Glashaar, in deren Bezug er während der Ruhezeit ein Loch gerissen hatte und in der nun die Teile einer Pistole versteckt lagen. Er schob und drückte, bis er eine Art Beule erzeugt hatte, eine Einbuchtung, die entlang der Wand einen Kanal zum mittleren Stockwerk des Bettes bildete. In diesem Bett lag Austin.
Mit kleinen Rucken, zwischen denen er immer wieder innehielt und lauschte, schob er sich an die Wand, bis sein Ohr an der Öffnung lag. Lange Zeit horchte er. Seine Augen starrten weit aufgerissen ins Leere. Um ihn herum war die wesenlose Dämmerung der Nacht, fahler Schein stand wie kalter Dunst an den Fenstern, Schatten hingen als graue Vorhänge an den Bettgestellen. Undeutliche Buckelformen gestreckter oder zusammengekrümmter Körper bauschten die Decken. Die Atemzüge pfiffen wie die sich abwechselnd öffnenden und schließenden Ventile einer Pumpanlage – mit maschinenhafter Regelmäßigkeit. Auch Austin atmete ruhig, aber nach einer Weile drehte er sich herum, und dann noch einmal.
»He, Austin!« Abel hauchte die Worte in das Loch hinein. »Austin, hörst du?«
Die Atemzüge unten wurden leiser ... hielten an.
»Austin, antworte doch!«
Abel hörte ein leichtes Streifen, dann ertönte unversehens und erschreckend laut die Stimme Austins:
»Was gibt’s?«
Austin hatte sich aufgesetzt, sein Kopf befand sich direkt unter dem Verbindungskanal.
Abel fuhr zurück und sah sich vorsichtig um.
Dann erst antwortete er:
»Ich muß mit dir sprechen!«
»Laß mich in Frieden!«
Unten knarrte es. Die Decke raschelte.
Abel sagte: »Stell dich nicht so blöd an! Wenn jetzt wieder eine Spur Vernunft in deinem Schädel ist, hast du es mir zu verdanken. Hörst du? Wir sind die einzigen klaren Köpfe in diesem Stall von Belämmerten. Wir müssen zusammenhalten!«
Er schwieg ein paar Sekunden. Unten rührte sich nichts. Da redete er weiter in das Schwarze hinein.
»Paß auf: Ich habe schon einen Plan. Es ist zwar nicht einfach, aber es ist möglich. Verstehst du! Es ist möglich! Er wird sterben! Wenn du mir...«
Aus dem mittleren Bett kam ein dumpfer Laut. Austin hatte sich hastig aufgesetzt. Sein Mund war an der Öffnung.
»Wer wird sterben?«
»Der Major natürlich – wer sonst?« Für Abel war es unbegreiflich, daß der andere nicht verstand. »Der Major – das ist doch klar!«
»Du bist verrückt«, sagte Austin.
»Paß auf!« sagte Abel. »Es geht wirklich. Glaube mir. Ich habe alles überlegt. Ich mache es mit einer Pistole. Ich weiß auch schon, wie ich eine bekomme: Ich organisiere mir einen Teil nach dem andern. Daraus setze ich die Pistole zusammen.«
»Du bist verrückt!«
»Pst!«
Im Nebenbett wälzte sich einer der Schlafenden stöhnend auf die andere Seite. Abel und Austin verhielten wie erstarrt... Dann gingen die Laute von drüben in rasselndes Schnarchen über.
»Alles ist durchdacht«, flüsterte Abel. »Es kann nicht schiefgehen. Munition hole ich mir während der Schießübung.«
»Warum willst du ihn töten?«
»Warum?« wiederholte Abel zögernd. »Warum?« Seltsame Frage. Alles war selbstverständlich – und da fragte der, warum! »Er muß sterben, ich werde ihn töten«, sagte er lahm.
»Mensch, du setzt doch alles aufs Spiel«, sagte Austin. »Was schert uns der Major. Ob er lebt oder krepiert – mich läßt das kalt.«
»Was setze ich aufs Spiel?« fragte Abel.
»Die Freiheit, was sonst? Wie willst du entkommen, wenn du hier ein Theater inszenierst?«
»Entkommen? Ich will nicht entkommen. Ich will den Major töten. Ich muß den Major töten. Ich werde den Major töten.«
»Und was dann?«
Abel war überrascht. Was dann? Die Frage hatte er sich noch nicht gestellt. Sie lag so weit weg. »Hör zu«, sagte er. »Du kannst tun, was du willst. Ich mache mit. Aber zuerst mußt du mir helfen.« Seine Gedanken schwenkten wieder in die alte Fahrbahn. »Gib acht: Ein paar Teile kann ich bekommen, ohne daß es auffällt. Dann aber müssen wir... In der Nacht...«
»Du phantasierst«, unterbrach ihn Austin. »Tu mit deiner Pistole, was du willst, aber ohne mich. Ich will hier raus – das ist alles, was ich will. Raus, verstehst du das?«
»Was willst du draußen?« fragte Abel.
»Draußen, Mensch, da ... was für eine Frage. Nun, nun ja...« Austin stockte.
»Was ist draußen, Austin?«
Austin setzte erneut an. »Draußen, da ist keine Kaserne, kein Exerzierplatz, kein Vorgesetzter, keine Uniform...« Wieder schwieg er.
»Na, was ist nun draußen?« drängte Abel.
»Ganz einfach – die normale Welt, das normale Leben ... eben die Freiheit!«
»Geschwätz«, flüsterte Abel. In seinem Kopf flackerte ein schwaches Licht, aber es erlosch, ohne eine Erinnerung zu entfachen.