»Was meinst du ... was ist draußen?« fragte Austin. Und lauter setzte er hinzu: »Es muß doch etwas draußen sein!«
»Still!« zischte Abel. Die Muskeln seines Oberarms, auf den er sich stützte, schmerzten, und er veränderte vorsichtig seine halb liegende, halb kauernde Position.
»Warum soll etwas draußen sein?« fragte er. »Ich glaube, draußen ist nichts! Die Welt ist begrenzt. Für jeden Menschen ist die Welt begrenzt; es gibt etwas, über das er nicht hinaus kann. Wir können aus der Kaserne nicht hinaus. Das ist es. Man muß sich seine Ziele innerhalb seiner Welt suchen. Und das tue ich. Der Major...«
Austin kniete auf seinem Bett und preßte den Mund an den Rand der Glashaarmatratze.
»Das, was du sagst ... das hast du doch nicht von hier! Das muß doch von woanders sein. Abel, versuche dich zu erinnern... Was war vorher? Vor der Kaserne?«
Wieder flackerte in Abel das Licht. Bilder zuckten und verschwanden, ehe er sie fassen konnte. Er strengte sich an, ohne zu wissen, was in ihm arbeitete, um etwas heraufzubeschwören, das irgendwo in seinem Inneren verborgen lag. Schweiß stand auf seiner Stirn.
»Irgend etwas ... ja ... es ist möglich.« Er sprach tonlos, fast unhörbar. »Aber nicht außerhalb. Vielleicht in der Vergangenheit?« Er riß sich zusammen. »Was hat es für einen Sinn: Jedenfalls ist es nicht erreichbar. Bleib hier und hilf mir, den Major zu töten. Dann wird alles gut – du wirst sehen!«
»Abel«, hauchte es aus der Öffnung an der Wand. »Abel, ich weiß, was draußen ist: Die Engel kommen von draußen. Draußen müssen die Engel sein!«
In Abel zog sich etwas zusammen. Eine Saite schwang nicht mit. Eine Kluft trennte ihn von seinen Kameraden. Austin war schon einmal bei ihnen gewesen – bei den Engeln. Er, Abel, nicht. Alle vier Wochen, nach der medizinischen Untersuchung, wurden vier Männer bestimmt. Sie wurden an einem Abend abgeholt und kamen erst am Morgen wieder. Niemand wußte, nach welchem Gesichtspunkt die Auswahl erfolgte. Es war keine Belohnung; denn Belohnung gab es nicht. Lohn – das war das Bewußtsein, seine Pflicht erfüllt zu haben. Es war auch nicht wie die Strafe, die manchmal begründet war und manchmal nicht. Es war das Unbestimmte selbst: das Irrationale, das Glück, die Sehnsucht, die Hoffnung.
Abel hatte noch keinen Engel gesehen. Aber die Auserwählten hatten von ihnen erzählt: von ihrer weißen Haut, von den weichen Lippen, von der warmen Geborgenheit, der Mütterlichkeit, dem Zuhausesein. Vom flaumigen, alles verwischenden Schleier der Haare.
Grell wie ein Blitz gellte das Klingelsignal. Das Licht flammte weiß und fahl. Decken flogen beiseite. Weiß und grau gestreifte Pyjamas plumpsten aus den Betten, die Tür wurde aufgerissen...
In das auflebende Hasten hinein sagte Austin: »Mach, was du willst – ich will hinaus!«
Das oberste Stockwerk seines Bettes bot Abel einen besonderen Vorteil – das Licht der Lampen traf es nur schräg, und überdies konnte es von unten nicht eingesehen werden. So hatte er Zeit, die Matratze zurechtzurücken, bevor er auf den Boden sprang, gerade als der Korporal die Tür aufstieß.
»Achtung!«
Er stand mit den andern, dem Vorgesetzten zugewandt, die Füße aneinandergelegt, die Arme an die Seiten gepreßt. An den Unterarmen, knapp über den Handgelenken, um die die Ärmel des Pyjamaoberteils straff geschlossen waren, spürte er den Druck harten Metalls – die Zündvorrichtung der Pistole, die er dort eingeknöpft hatte. Sie verursachte ihm einen genußreichen Schmerz. Ihr Funken würde das tödliche Projektil aus dem Lauf jagen, in den massigen Körper des Majors hinein.
»Alarm! Marschausrüstung anlegen. In einer Minute ist alles draußen in den Gräben. Wegtreten!«
Fieberhaft zogen sie die Kleidung über, schnürten die Stiefel, warfen die Gürtel um.
»Schneller, ihr lahmen Hunde!«
Sie wanden sich in die Tornisterriemen, klappten die Helme auf die kahlen Schädel.
»Raus, wird’s bald.«
Der Korporal stand in der Tür und musterte jeden, der gerade durchlief. Den letzten hielt er an. Es war Abel.
»Sie melden sich beim Mittagsappell!«
»Jawohl, Herr Korporal!«
Einen Augenblick lang starrten die beiden Männer einander ins Gesicht, dann senkte Abel die Augen. Der Korporal gab ihn frei, und er hastete den anderen nach.
Am Himmel hing eine Dunstglocke, von der diffuses Licht ausging. Kalter Wind versprühte Nebeltropfen. Die mit Leuchtfarbe auf die Helme geschriebenen Registraturnummern der Soldaten irrlichterten, als sie ameisenhaft ihren Stellungen zustrebten. Der Übungsplatz war ein zerwühltes, zerstampftes Lehmfeld, kreuz und quer von Schützengräben durchschnitten. Nach Sekunden war das Getümmel vorüber; zehn schwarze Körper, die Sergeanten, waren übriggeblieben. Etwas abseits stand unbewegt eine elfte Gestalt – der Major.
»Sturm! Auf, marsch, marsch!«
Sie quollen aus den Gräben, taumelten vorwärts.
»Tiefflieger von Süd!«
Sie warfen sich zur Erde, in den nassen Lehm, die Köpfe angezogen, für Bruchteile von Sekunden erschlafft, aber die Ellbogen schon sprungbereit aufgestützt...
»Auf, marsch, marsch!«
Der Lehm saugte sich an den Stiefeln fest, zerrte an den Sohlen und blieb in dicken Klumpen daran haften.
»In die Gräben, marsch, marsch!«
Sie glitten, kollerten, stürzten in die mannstiefen Einschnitte, an deren Boden das Wasser in kleinen Rinnsalen abfloß.
»Sturm! Auf, marsch, marsch!«
Die Gräben waren etwa halbmeterbreit, schwarze Schnitte in dem braunen Feld, das die Männer im taumelnden Lauf durchpflügten. Abel kannte das Bild; er brauchte nicht aus dem Graben zu sehen, in dem er zurückgeblieben war. Er lag unten am Grund, mitten im träge sickernden Wasser.
»Nieder! Eingraben!«
Die Kameraden draußen klappten die zusammenlegbaren Stiele ihrer Spaten auseinander und arretierten sie mit dem dazu vorgesehenen Querriegel. Im Liegen stießen sie die Schneiden in die weiche Erde, schaufelten die nassen Brocken nach vorn, öffneten Mulden, wühlten sich ein wie Erdgeschöpfe – in die feuchte Masse, von der sie sich nicht unterschieden, mit den dicken Krusten aus Lehm, die Kleider wie Panzerschuppen überzogen.
Auch Abel wühlte sich in die Erde. Er kostete den Spaß aus, einem Befehl zu folgen und doch dagegen zu handeln. Er grub seitlich in die Grabenwand hinein, zwei Meter links von der Ecke, wo sein Grabenabschnitt begann, kniehoch über dem Boden, dreißig Zentimeter tief, ein enges, flaches Loch. Eilig streifte er den Ärmel seiner Uniformjacke hoch und knöpfte den Pyjamaärmel auf.
»Sprung auf! Marsch, marsch!«
Mochten sie laufen! Abel zog die Zündvorrichtung aus dem Ärmel. In dem Plastiktütchen, das er bei der Pillenausgabe eingesteckt hatte, würde sie trocken bleiben. Er hatte es an einen Faden vom Rand seines Putzlappens gebunden.
»Kehrt, marsch, marsch!«
Sorgfältig schob er das Päckchen in die Höhlung und führte den Faden heraus, so daß etwa drei Zentimeter hervorsahen. Dann nahm er mit den bloßen Händen Lehm vom Boden auf und stopfte ihn in das Loch.
»Besetzt die Gräben, marsch, marsch!«
Abel verschmierte den Lehm an der Wand. Rasch sah er sich um. Die ersten Kameraden hopsten von oben in die Gräben – schwarze Bälle vor dem gelben Dunststrich des Himmels. Abel knöpfte den Pyjamaärmel zu und streifte den Jackenärmel darüber. Die Kameraden hockten geduckt im Graben, keuchend, mit eingezogenen Köpfen. Niemand beobachtete ihn. Niemandem war etwas aufgefallen.
»In die Gräben, marsch, marsch!«
Sie taumelten schwerfällig und langsam hinein.
»Sturm! Auf, marsch, marsch!«
Abel hetzte und sprang mit den anderen, eine Stunde lang, bis zur völligen Erschöpfung. Es war nicht mehr das beglückende Gefühl, seine Pflicht als Soldat zu tun, das ihn aufrechterhielt, sondern der Rausch des Erfolgs.
Die Schule war eine Baracke, in der sich nur ein Raum befand. Sein ganzes Mobiliar bestand aus einer Tafel und aus elf Bänken, zehn hintereinander im Mittelfeld des Raumes für die einfachen Soldaten, eine an der rechten Wand für die Korporale. Den Unterricht hielt der Sergeant.