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»Sie sind schwarz und verdorben. Ich habe noch keinen gesehen«, sagte Kossil mit Genugtuung, und sie verlagerte ihr Gewicht auf dem Schemel und streckte ihre Hände gegen das Feuer.

»Mögen die Zwillingsgötter sie fernhalten«, murmelte Thar.

»Sie werden nie wieder hierherkommen«, sagte Kossil, und das Feuer prasselte vor ihnen, und der Regen prasselte auf das Dach, und draußen auf dem düsteren Flur schrie Manan mit schriller Stimme: »Aha! Ich bekomme die Hälfte! Die Hälfte!«

5

LICHT UNTER DEM HÜGEL

Als das Jahr sich seinem Ende zu neigte, starb Thar. Im Sommer hatte sie begonnen, über eine Schwäche zu klagen, die nicht weichen wollte und an ihrer Gesundheit zehrte. Sie, die stets hager gewesen war, magerte nun zum Skelett ab; sie, die früher verschlossen gewesen war, redete nun überhaupt nicht mehr. Nur mit Arha sprach sie noch gelegentlich, wenn sie allein miteinander waren, und dann hörte selbst das auf, und schweigend ging sie in das Land der ewigen Dunkelheit ein. Als sie für immer gegangen war, merkte Arha, wie sehr sie ihr fehlte. Wohl war sie streng gewesen, aber weh getan hatte sie keinem. Sie hatte sich bemüht, in Arha Stolz zu erwecken, und ließ keine Furcht aufkommen.

Jetzt war nur noch Kossil übrig.

Im Frühling sollte eine neue Hohepriesterin aus Awabad in den Tempel der Zwillingsgötter kommen; bis dahin teilten sich Kossil und Arha die Leitung und Verwaltung der Stätte. Die Frauen nannten das Mädchen »Herrin« und führten aus, was Arha befahl. Doch Arha lernte bald, Kossil keine Anweisungen zu erteilen. Zwar hatte sie das Recht dazu, doch fehlte ihr die Macht. Viel Stärke wäre nötig gewesen, um Kossil herumzukommandieren, denn sie war neidisch auf jeden, der höher stand als sie, und sie haßte alles, was sie nicht unter ihrer Fuchtel hatte.

Seit Arha (von der sanften Penthe) gelernt hatte, daß Unglauben existiert, und seitdem sie es als Möglichkeit akzeptiert hatte — obwohl sie dies tief beunruhigte —, sah sie Kossil in einem neuen Licht und verstand sie besser. Kossil huldigte den Namenlosen und den Göttern nicht aus voller innerer Überzeugung. Nur Macht war ihr heilig, sonst nichts. Die Herrscher des Kargadreiches hielten diese Macht in ihren Händen und waren deshalb, in Kossils Augen, wahre Gottkönige und ihres, Kossil, Dienstes gewiß. Die Tempel jedoch waren für sie nichts als Äußerlichkeiten, die Grabsteine bloße Felsen und die Gräber von Atuan nichts als Löcher im Boden, die zwarerschreckend, doch sonst leer waren. Läge es in ihrer Macht, so würde sie die Verehrung des Leeren Thrones abschaffen. Und wenn sie könnte, so würde sie die Erste Priesterin ebenfalls verschwinden lassen.

Es dauerte eine geraume Zeit, aber schließlich war Arha so weit, daß sie all diese Vermutungen als gegeben hinnahm. Vielleicht hatte ihr Thar geholfen, dies zu erkennen, obwohl sie nie direkt darüber gesprochen hatte. Als ihre Krankheit noch im ersten Stadium war, hatte sie Arha gebeten, alle paar Tage zu ihr zu kommen und mit ihr zu reden. Sie hatte ihr viel über den Gottkönig und seine Vorgänger erzählt, und was in Awabad vor sich ging — Dinge, die sie als Hohepriesterin wissen mußte, die aber nicht immer schmeichelhaft für den Gottkönig und seinen Hof waren. Manchmal erzählte sie auch aus ihrem eignen Leben und beschrieb, wie die vorherige Arha ausgesehen und was sie alles unternommen hatte. Manchmal — nicht oft — verweilte sie bei den Gefahren und Schwierigkeiten, die Arha in ihrem jetzigen Leben erwarten würden. Nie erwähnte sie Kossil mit Namen, aber Arha war elf Jahre lang Thars Schülerin gewesen, und ein Blick, ein Ton genügten, um den tieferen Sinn ihrer Worte zu begreifen und im Gedächtnis zu behalten.

Nachdem die bedrückenden Rituale der Trauer abgeschlossen waren, versuchte Arha, Kossil aus dem Wege zu gehen. Wenn die langen Arbeiten und Rituale des Tages vorbei waren, zog sich Arha in ihr Haus zurück, und wenn sie Zeit übrig hatte, ging sie in das Zimmer hinter dem Thron, öffnete die Falltür und stieg hinunter in die Dunkelheit. Es war gleich, ob es draußen Tag oder Nacht war, dort unten war es immer dunkel. Sie hatte begonnen, ihr unterirdisches Reich systematisch zu erforschen. Das Untergrab, das heiligste der Heiligtümer, war jedem verboten, nur Priesterinnen und ihre vertrautesten Eunuchen durften hier eintreten. Jeder andere, ob Mann oder Frau, würde vom Fluch der Namenlosen niedergeschmettert werden. Aber unter all den Regeln fand sie keine, die den Zutritt zum Labyrinth untersagte. Das war auch nicht nötig. Es konnte nur vom Untergrab aus betreten werden. Und außerdem — war es nötig, einer Fliege zu verbieten, ins Netz einer Spinne zu fliegen?

Diese Überlegungen führten sie dazu, Manan öfter mit hinunter ins Labyrinth zu nehmen, damit er lerne, sich wenigstens in den näherliegenden Gängen auszukennen. Er hatte überhaupt keine Lust dazu, dorthin mitzugehen, aber wie in allem, so gehorchte er ihr auch darin. Sie vergewisserte sich auch, ob Duby und Uahto, Kossils Eunuchen, ebenfalls den Weg in den Kettenraum und den Weg aus dem Untergrab heraus wußten, aber mehr zeigte sie ihnen nicht. Sie wollte nicht, daß irgend jemand, außer Manan, der ihr treu ergeben war, die geheimen Gänge kannte. Denn die waren ihr Eigentum in alle Ewigkeit. Sie hatte mit der Gesamterforschung des Labyrinths begonnen. Den ganzen Herbst verbrachte sie damit, und manche Tage lang durchmaß sie diese endlosen Gänge, und noch immer stieß sie auf gewisse Abschnitte, die ihr neu und fremd waren. Es war ermüdend, dieses ganze, riesige, nutzlose Gewirr von Gängen zu erforschen, ihre Beine taten ihr weh und ihr Geist langweilte sich von dem dauernden Zählen der Ecken und Durchgänge, die bereits hinter und noch vor einem lagen. Es war im Grunde eine meisterhafte Anlage, die sich durch das Felsgestein wie das Straßennetz einer großen Stadt zog, aber es war so angelegt, daß es jeden Sterblichen ermüden und verwirren würde, und selbst die Priesterin mußte am Ende zur Erkenntnis gelangen, daß es nichts weiter war als eine Riesenfalle.

Im Verlauf des Winters wandte sie sich daher immer mehr der Erforschung der Thronhalle zu, den Altären, den Nischen hinter und unter den Altären, den Zimmern voller Truhen und Kästen, und dem Inhalt dieser Truhen und Kästen; sie erforschte die Flure und Speichergewölbe, das staubige Rund unter der Kuppel, in dem Hunderte von Fledermäusen hausten, die Kellergewölbe, die untereinander lagen und ihr wie die Vorgemächer der Dunkelheit selbst erschienen.

Ihre Hände und Ärmel von süßlich riechendem Moschus parfümiert, der acht Jahrhunderte lang in einer eisernen Truhe gelagert und zu Staub zerfallen war, ihre Stirn von dunklen Spinnweben umflort, die sich nicht wegwischen ließen, so kniete sie oft stundenlang und betrachtete die wunderbaren Schnitzereien an einer Truhe aus Zedernholz, die vor langer Zeit als Gabe für die Namenlosen von irgendeinem König hierhergebracht worden waren. Hier konnte man den König erkennen, eine kleine, steife Gestalt mit einer großen Nase, und dort war die Thronhalle mit der flachen Kuppel und dem Portal mit den Säulen, das in kunstvollen Reliefs von einem Künstler geschnitzt worden war, der schon seit Hunderten von Jahren zu Staub zerfallen war. Und hier konnte man die Eine Priesterin erkennen, die den betäubenden Duft der Kräuter einatmete, die in den Bronzeschalen brannten, und die einen König beriet oder ihm etwas prophezeite, dessen Nase auf diesem Bild abgebrochen war. Das Gesicht der Priesterin war zu klein, um ihre Züge zu erkennen, aber Arha stellte sich vor, daß es ihre eigenen Gesichtszüge waren. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie dem König mit der großen Nase gesagt hatte, und ob er dankbar gewesen war.

Sie hatte Lieblingsplätze in der Thronhalle, wie man Lieblingsplätze in einem sonnigen Haus haben konnte. Oft begab sie sich in einen der kleinen, halbhohen Speicher im hinteren Teil der Halle. Dort befanden sich uralte Gewänder und Kostüme noch aus der Zeit, da mächtige Könige und Fürsten hierher an die Gräberstätte gekommen waren, um ihre Ehrfurcht zu bezeugen und um darzutun, daß dies eine Stätte war, die größer war als ihr eigenes Reich, größer als jedes Menschenreich. Manchmal waren Prinzessinnen mitgekommen, die weiche, weiße, mit Topas und Amethyst bestickte Seidengewänder trugen und mit der Priesterin der Gräber tanzten. Unter einem der Schätze befanden sich kleine, bemalte Tischchen aus Elfenbein, die solch einen Tanz darstellten, und außerhalb des Saales warteten Fürsten und Könige, denn damals wie heute war es keinem Mann gestattet, die Thronhalle zu betreten. Doch die Mädchen durften hereinkommen, und in weiße Seide gehüllt tanzten sie mit der Priesterin. Die Priesterin trug ein grobgewebtes, schwarzes Gewand, auch das war gleich geblieben. Doch es gefiel Arha, den süßlich duftenden, weichen Stoff, der halb zerfallen war vom Alter, anzufassen und die Juwelen, gleichbleibend in ihrer Schönheit, zu betrachten, die, zu schwer geworden längst für das brüchige Gewebe, zum Teil abgefallen waren. Von diesen Gewändern ging ein anderer Geruch aus als der Moschus- und Weihrauchduft, der in den Tempeln hing: er war frischer, jünger, weniger stark.