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Da stand er, eine Hand leicht in die Hüfte gestemmt, mit der anderen, von sich weggestreckt, hielt er den hölzernen Stab, der so groß wie er selbst war und an dessen Spitze dieses kleine, magische Lichtlein schwebte. Sein Kopf, auf den sie aus zwei Metern Höhe herabschaute, war etwas zur Seite geneigt. Seine Kleidung war nicht anders als die eines Winterreisenden oder Pilgers, ein kurzer, warmer Umhang, ein Lederwams, Strümpfe aus Wolle und geschnürte Sandalen. Auf dem Rücken trug er einen kleinen Ranzen, an dem eine Wasserflasche baumelte, an der Seite ein Messer, das in einer Scheide steckte. Er stand regungslos da, wie eine Statue, aber entspannt und nachdenklich.

Langsam hob er seinen Stab und hielt das helle Ende gegen die Tür, die Arha von ihrem Guckloch aus nicht sehen konnte. Das Licht veränderte sich, wurde kleiner und schien in durchdringender Helle. Die Sprache, die sie vernahm, kam Arha seltsam vor, doch noch seltsamer berührte sie die tiefe, wohlklingende Stimme.

Das Licht am Stab veränderte sich wieder, flackerte und wurde schwächer. Im nächsten Augenblick war es erloschen, und sie konnte ihn nicht mehr sehen.

Jetzt erschien wieder das schwache, violette, gleichmäßige Moorlicht, und sie sah, wie er sich von der Tür abwandte. Sein Öffnungszauber hatte versagt. Die Mächte, die das Schloß dieser Tür festhielten, waren stärker als alle Magie, über die er verfügte.

Er schaute sich um und schien zu denken, was nun?

Der Gang oder Flur, in dem er stand, war ungefähr eineinhalb Meter breit. Die Decke war ungefähr vier bis fünf Meter hoch über dem Boden. Die Wände waren aus behauenem Stein, aber ohne Zement gefügt, doch so sorgfältig und dicht gelegt, daß man kaum eine Messerspitze in die Fugen stecken konnte. Die Steine traten, je höher die Wand sich erstreckte, immer weiter heraus und formten eine Art Rundbogen.

Sonst war nichts zu sehen.

Er bewegte sich vorwärts. Ein Schritt ließ ihn bereits aus Arhas Blickfeld entschwinden. Das Licht verlor sich. Sie war gerade im Begriff, das Gewebe wieder zurückzuziehen und die Kachel an ihren Platz zu rücken, als der gedämpfte Lichtstrahl wieder herauffiel. Er war zur Tür zurückgekehrt. Vielleicht war ihm zu Bewußtsein gekommen, daß er die Tür, nachdem er sich ins Labyrinth begeben hatte, wohl schwerlich wieder erreichen würde.

Er sprach nur ein einziges Wort, und seine Stimme klang gedämpft: »Emenn«, sagte er, und noch einmal, lauter: »Emenn!« Die eiserne Tür schüttelte sich knirschend in ihren Angeln, und dunkle Echos hallten den rundgewölbten Gang hinunter wie Donner. Es kam Arha vor, als zittere der Boden unter ihren Füßen.

Aber die Tür blieb verschlossen.

Er lachte kurz auf, wie ein Mann, der sich überlegt: »Wie konnte ich nur so dumm sein!« Er schaute sich noch einmal um, und als er aufblickte, sah Arha noch ein Lächeln auf dem dunklen Gesicht. Dann setzte er sich auf den Boden, nahm seinen Ranzen ab, holte ein trockenes Stück Brot heraus und begann daran zu kauen. Er machte seine Wasserflasche aus Leder auf und schüttelte sie. Sie sah leicht aus in seiner Hand, so als ob sie nahezu leer wäre. Er verschloß sie wieder, ohne zu trinken. Er legte den Ranzen hinter sich nieder. Den Stab hielt er in seiner rechten Hand. Als er sich hinlegte, löste sich das kleine Flämmchen von seinem Stab, schwebte hoch und hing als ein schwach leuchtender Lichtball hinter seinem Kopf, etwa einen halben Meter über dem Boden. Seine linke Hand lag auf der Brust und hielt etwas fest, das an einer schweren Kette um seinen Hals hing. Er lag ganz entspannt da, seine Füße waren verschränkt. Sein Blick glitt am Guckloch vorbei. Er seufzte und schloß die Augen. Das Licht wurde schwächer. Er schlief ein.

Die geballte Hand auf seiner Brust entspannte sich und fiel herunter. Die Beobachterin am Guckloch sah den Talisman, den er an der Kette trug: ein kleines, einfaches Metallstück, das aussah, als sei es halbrund geformt.

Das Glühlicht wurde schwächer und erlosch. Er lag in der Stille und Dunkelheit.

Arha zog das Gewebe über das Loch zurück und paßte die Kachel wieder ein, erhob sich vorsichtig und schlüpfte in ihr Zimmer. Dort lag sie lange wach in der vom Brausen des Windes erfüllten Dunkelheit. Immer wieder trat der strahlende Glanz des kristallenen Gewölbes, das sie im Haus des Todes gesehen hatte, vor ihre Augen, das gedämpfte Licht, das nichts verbrannte, die Steine, die die Wand des Gangs bildeten, und das friedliche Gesicht des schlafenden jungen Mannes.

6

DIE MENSCHENFALLE

Am nächsten Tag, nachdem sie ihren Pflichten in den verschiedenen Tempeln nachgekommen war und die Novizen in den heiligen Tänzen unterrichtet hatte, schlüpfte Arha hinüber ins Kleinhaus, verdunkelte den Raum und spähte durch das Guckloch hinunter in den unterirdischen Gang. Kein Licht war zu sehen. Er war nicht mehr da. Sie hatte auch nicht erwartet, daß er so lange an der unbeweglichen Tür verweilen würde, aber es war der einzige Ort, an dem sie nach ihm Ausschau halten konnte. Wie konnte sie ihn jetzt finden, nachdem er sich selbst verloren hatte?

Die Gänge des Labyrinths zogen sich, ihrer eigenen Erfahrung und Thars Berechnungen nach, in all ihren Windungen, Abzweigungen, Krümmungen, Spiralen und Sackgassen über eine Strecke von mehr als zwanzig Meilen dahin. Die Sackgasse, die am weitesten von den Gräbern entfernt lag, war, in direkter Linie gemessen, bestimmt nicht weiter als eine Meile entfernt. Aber kein Gang verlief gerade dort unten. Alle Gänge wanden, verbanden, trennten, verzweigten sich und zogen sich in verschnörkelten Bahnen dahin, die dort endeten, wo sie begonnen hatten. Einen richtigen Anfang und ein richtiges Ende gab es nicht. Man konnte dort unten gehen und immer weiter gehen und kam doch nirgends hin, denn es gab nichts, wohin man gelangen konnte. Das Labyrinth hatte keinen Mittelpunkt, kein Herz. Und wenn die Tür geschlossen war, so gab es kein Ende mehr. Keine Richtung war richtig.

Obwohl sie die Wege und Wendungen zu den verschiedenen Räumen und Abschnitten fest im Gedächtnis hatte, hatte sie doch immer, wenn sie auf einen größeren Forschungsausflug ging, einen Knäuel feines Garn mitgenommen, das sich hinter ihr abspulte und das sie, bei der Rückkehr, wieder zu einem Knäuel wickelte. Denn sie brauchte nur einen der Durchgänge oder eine der Ecken vergessen zu zählen, dann wäre selbst sie verloren gewesen. Ein Licht nutzte nichts, denn es gab keine Anhaltspunkte dort unten. Alle Gänge, alle Durchgänge, alle Türen sahen gleich aus. Er konnte bereits meilenweit gelaufen sein und sich doch nur wenige Schritte von der Tür entfernt befinden, durch die er eingetreten war.

Sie ging in die Thronhalle, in den Tempel der Zwillingsgötter und in den Keller unter den Küchenräumen, und als sie allein war, schaute sie durch jedes der Gucklöcher, die sich an diesen Orten befanden, aber sie sah nichts als dichte, kalte Dunkelheit. Als es Nacht wurde, eine bitterkalte, sternenklare Nacht, ging sie zu bestimmten Stellen am Hügel und hob gewisse Steine hoch, kratzte die Erde weg und spähte hinunter, aber auch hier sah sie nur sternenlose, unterirdische Dunkelheit.

Er war dort unten. Er mußte dort unten sein. Und doch war er ihr entwichen. Er würde vor Durst umkommen, bevor sie ihn fand. Sie würde Manan hinunter ins Labyrinth schicken müssen, wenn sie sicher war, daß er nicht mehr lebte. Es war unerträglich, daran zu denken. Als sie im Sternenlicht am eiskalten Hügel kniete, stiegen ihr Tränen des Zornes in die Augen.

Sie folgte dem Pfad, der den Hügel hinunter zum Tempel des Gottkönigs führte. Die vom Rauhreif bedeckten Säulen mit den geschnitzten Kapitellen schimmerten weiß im Licht der Sterne. Sie sahen aus wie Säulen aus Knochen. Sie klopfte an die Hintertür, und Kossil ließ sie eintreten.

»Was führt meine Herrin hierher?« fragte die beleibte Frau, ihren kalten, lauernden Blick auf Arha gerichtet.

»Priesterin, im Labyrinth befindet sich ein Mann.«