Sie konnte ihm etwas Wasser durch das Guckloch hinunterlassen. Das würde ihn länger am Leben erhalten; so lange es ihr Spaß machte. Wenn sie ab und zu Wasser und etwas Nahrung hinunterließ, dann würde er wochen- oder monatelang am Leben bleiben und im Labyrinth umherwandern, und sie konnte ihn durch die Gucklöcher beobachten und ihm sagen, wo Wasser zu finden war, und manchmal konnte sie ihn irreleiten, und er würde vergeblich danach suchen, aber er würde ihr immer gehorchen müssen. Das würde ihn Respekt lehren, er würde es bitter bereuen, die Namenlosen verhöhnt zu haben, er, der seine lächerliche Männlichkeit in der Gräberstätte der Namenlosen beweisen wollte!
Aber so lange er dort unten war, konnte sie nie das Labyrinth betreten. Warum nicht? fragte sie sich und antwortete: … weil er durch die Eisentür, die ich hinter mir offenlassen muß, entweichen kann … Aber er würde nicht weiter als bis zum Untergrab kommen. Sie gestand sich die Wahrheit ein: sie fürchtete sich, ihm gegenüberzutreten. Sie hatte Angst vor seiner Macht, vor seinen Künsten, die ihm geholfen hatten, das Untergrab zu betreten, vor der Zauberkraft, die das Licht am Stab leuchten ließ. Aber war denn das so schrecklich? Die Mächte, die an den dunklen Orten herrschten, waren auf ihrer, nicht auf seiner Seite. Er konnte ganz offensichtlich wenig im Reich der Namenlosen ausrichten. Er hatte die eiserne Tür nicht öffnen können, er war nicht in der Lage, etwas zum Essen herbeizuzaubern, es gelang ihm nicht, Wasser durch die Wand zu leiten oder Dämonen herbeizurufen, die ihm die Wand einreißen konnten. Nein, er war machtlos hier, und das, wovor sie sich gefürchtet hatte, konnte er hier nicht wirken. In den drei Tagen, die er herumgewandert war, hatte er nicht einmal die Tür zur Großen Schatzkammer gefunden, die er gewißlich gesucht hatte. Sie selbst war noch nie Thars Anweisungen gefolgt und hatte diesen Raum aufgesucht; sie hatte es immer wieder verschoben, aus einem Gefühl der Ehrfurcht heraus, etwas in ihr sträubte sich dagegen, ein Gefühl, daß die Zeit noch nicht reif dazu war.
Jetzt überlegte sie sich aber: warum konnte er diesen Weg nicht für sie gehen? Er konnte, so lange er wollte, sich an den Schätzen der Gräber vergnügen. Sie würden ihm wahrlich wenig nutzen! Sie konnte sich über ihn lustig machen, konnte ihn auffordern, das Gold zu essen und die Diamanten zu trinken.
Mit der gleichen nervösen, fieberhaften Hast, die während der vergangenen drei Tage Besitz von ihr ergriffen hatte, rannte sie zum Tempel der Zwillingsgötter, schloß die kleine, gewölbte Schatzkammer auf und machte das gut verborgene Guckloch am Boden auf.
Der Bemalte Raum lag unter ihr, doch er war stockfinster. Der Weg, dem der Mann folgen mußte dort unten, war viel umständlicherer war meilenlang, das hatte sie ganz vergessen. Und er war zweifellos geschwächt und konnte sich nicht schnell bewegen. Vielleicht hatte er ihre Anweisungen vergessen und die falsche Richtung eingeschlagen. Nur wenige Leute konnten, wie sie, Anweisungen im Gedächtnis behalten, die sie nur einmal gehört hatten. Vielleicht verstand er ihre Sprache überhaupt nicht. Wenn das der Fall war, dann sollte er von ihr aus herumlaufen, bis er dort unten tot umfiel, der Narr, der Fremde, der Ungläubige! Dann konnte sein Geist die steinernen Gänge der Gräber von Atuan entlang heulen, bis die Dunkelheit selbst ihn verzehrte …
Am nächsten Morgen, ganz früh, nach einer schlaflosen Nacht voll quälender Träume, kehrte sie zu dem Guckloch in dem kleinen Tempel zurück. Sie blickte hinunter und sah nichts, nur Schwärze. Sie ließ eine Kerze, die in einer kleinen Blechlaterne brannte, an einer Kette hinunter. Dort, im Bemalten Raum, erblickte sie ihn. Sie sah, im Lichtkreis der Lampe, seine Beine und eine schlaffe Hand. Sie brachte ihren Mund an das Guckloch, das so groß wie eine ganze Bodenkachel war und sagte: »Zauberer!«
Nichts rührte sich. War er tot? Besaß er denn nicht mehr Stärke? Sie lächelte verächtlich; ihr Herz schlug heftig. »Zauberer!« schrie sie, und ihre Stimme dröhnte in dem hohlen Raum unter ihr. Er bewegte sich, setzte sich langsam auf und schaute verwirrt um sich. Nach einer Weile blickte er hoch, zuckte zusammen, als er die kleine Laterne wahrnahm, die an der Decke hin und her schaukelte. Sein Gesicht sah schrecklich aus, geschwollen, so dunkel wie das Gesicht einer Mumie.
Er griff nach dem Stab, der neben ihm auf dem Boden lag, aber kein Lichtlein glühte an dem Holz. Keine Macht war mehr in ihm.
»Willst du den Schatz der Gräber von Atuan sehen, Zauberer?«
Er richtete sich mühsam auf und blinzelte in das Licht der Laterne, sonst konnte er nichts wahrnehmen. Nach einer Weile nickte er einmal mit dem Kopf, sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen, die vielleicht als Lächeln begonnen hatte.
»Verlaß diesen Raum, wende dich nach links, nimm den ersten Gang links …!« Sie ratterte die lange Reihe von Anweisungen herunter ohne abzusetzen und fügte am Ende hinzu: »Dort ist der Schatz, den du suchst. Und dort findest du, vielleicht, Wasser. Was hättest du denn jetzt lieber, Zauberer?«
Er stand jetzt schwankend auf den Füßen und hielt sich an seinem Stab fest. Mit Augen, die nichts sehen konnten, blickte er hoch und versuchte etwas zu sagen, doch kein Laut kam aus seiner ausgetrockneten Kehle. Er zuckte fast unmerklich die Achseln und verließ den Bemalten Raum.
Sie würde ihm kein Wasser geben. Den Weg zur Großen Schatzkammer würde er sowieso nicht finden. Die Anweisungen waren so lang, er würde sie sich nicht merken können, und dort befand sich auch der Schacht, wenn er überhaupt so weit kam. Jetzt war er ganz im Dunkeln. Er würde sich verlaufen und endlich umfallen und irgendwo in den engen, hohlen, ausgetrockneten Gängen sterben. Manan würde ihn finden und herausschleifen. Das war das Ende. Arha hielt sich am Rande des Gucklochs fest und schwang ihren gekrümmten Körper hin und her, hin und her und biß sich auf die Lippen, als wäre sie in furchtbarer Pein. Sie würde ihm kein Wasser geben. Sie würde ihm kein Wasser geben. Den Tod, den Tod, den Tod, den Tod, DEN TOD würde sie ihm geben.
In dieser dunkelsten Stunde ihres Lebens betrat Kossil mit schwerem Schritt die Schatzkammer, eine unförmige Gestalt in der dicken Winterkleidung.
»Ist er tot?«
Arha hob den Kopf. Ihre Augen waren trocken, sie hatte nichts zu verbergen.
»Ich glaube«, sagte sie und schüttelte den Staub von ihren Röcken. »Sein Licht ist erloschen.«
»Er kann uns einen Streich spielen. Die Seelenlosen sind sehr schlau.«
»Ich werde noch einen Tag warten, um sicher zu sein.«
»Ja, oder zwei. Dann kann Duby hinuntergehen und ihn herausziehen. Er ist stärker als der alte Manan.«
»Aber Manan steht im Dienst der Namenlosen und Duby nicht. Im Labyrinth sind Stellen, die Duby nicht betreten sollte, und der Dieb befindet sich an einer von ihnen.«
»Nun, dann ist der Ort ja bereits entweiht …«
»Und sein Tod reinigt ihn wieder«, sagte Arha. Sie konnte am Ausdruck von Kossils Gesicht ablesen, daß Kossil auf ihrem Gesicht etwas sah, das ihr verdächtig vorkam. »Dies ist mein Reich, Priesterin. Ich herrsche darüber und folge dem Willen meiner Gebieter. Ich habe keinen Unterricht mehr im Töten nötig.«
Kossils Gesicht schien sich in die schwarze Kapuze zurückzuziehen, wie eine Wüstenschildkröte in ihren Panzer, langsam, verbissen und kalt. »Sehr gut, Herrin.«
Sie trennten sich vor dem Altar der göttlichen Brüder. Arha ging, ohne sich zu beeilen, zum Kleinhaus und rief Manan zu sich, damit er sie begleite. Nachdem sie mit Kossil gesprochen hatte, wußte sie, was sie zu tun hatte.
Zusammen mit Manan ging sie den Hügel hinauf, betrat die Thronhalle und stieg hinunter ins Untergrab. Mit vereinten Kräften und großer Anstrengung zogen sie an dem langen Hebel der eisernen Tür. Sie öffnete sich langsam und schwer. Dann zündeten sie ihre Laternen an und traten ein. Arha ging voran zum Bemalten Raum, und von dort aus machte sie sich auf den Weg zur großen Schatzkammer.