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Der Dieb war nicht weit gekommen. Sie und Manan waren nicht mehr als fünfhundert Schritte auf dem verschlungenen Weg gegangen, als sie auf ihn stießen. Er lag, wie ein Bündel alter Lumpen, zusammengesunken, in dem engen Gang. Er hatte seinen Stab weggeworfen, bevor er umfiel, doch er lag nicht weit entfernt. Er blutete aus dem Mund, seine Augen waren halb geschlossen.

»Er lebt noch«, sagte Manan, der niedergekniet war und mit seiner großen, gelben Hand den Puls an seiner Kehle fühlte. »Soll ich ihn erwürgen, Herrin?«

»Nein, ich will ihn lebendig haben. Nimm ihn hoch und trag ihn mir nach!«

»Lebendig?« Manan war beunruhigt. »Warum denn das, kleine Herrin?«

»Damit er Sklave der Gräber werden kann! Sei jetzt ruhig und rede nicht weiter! Tu, was ich dir sage!«

Sein Gesicht wurde noch melancholischer als gewöhnlich, doch Manan gehorchte und hob den jungen Mann mühelos auf seine Schulter, wie einen langen Sack. So beladen stolperte er hinter Arha her. Er konnte nicht weit gehen mit seiner Last. Sie hielten immer wieder an, damit Manan Atem schöpfen konnte. An jedem Haltepunkt war der Gang gleich: gräulichgelbe Steine an der Wand, die sich zum Rundbogen trafen, unebener Felsboden, verbrauchte Luft. Manan stöhnte und ächzte, der Fremde rührte sich nicht. Die zwei Laternen verbreiteten ein schwaches Lichtrund, das sich nach vorne und hinten in dem engen Gang verlor. An jeder Haltestelle tröpfelte Arha etwas von dem Wasser, das sie mitgebracht hatte, in den Mund des Fremden, immer nur ein paar Tropfen, damit das wiedererwachende Leben ihn nicht töte.

»In den Kettenraum?« fragte Manan, als sie sich in dem Gang befanden, der zur eisernen Tür führte. Jetzt kam es Arha zum ersten Mal zum Bewußtsein, daß sie nicht wußte, wohin sie den Gefangenen bringen sollte.

»Nein, nicht dorthin«, sagte sie, und wiederum wurde es ihr fast übel beim Gedanken an den Rauch und Gestank, an die verfilzten, sprachlosen, blinden Gesichter. Und außerdem, Kossil konnte diesen Raum betreten. »Er … er muß im Labyrinth bleiben, damit er seine Zauberkraft nicht wiedererlangen kann. Wo gibt es hier einen abgeschlossenen Raum …?«

»Der Bemalte Raum hat eine Tür und ein Schloß und ein Guckloch ist auch da, Herrin. Wenn man ihm mit Türen trauen kann …«

»Hier unten hat er keine Macht. Trag ihn dorthin, Manan!«

Manan schleppte ihn also wieder zurück, die gleiche Strecke, die sie hergekommen waren, zu erschöpft, zu kurzatmig, um zu protestieren. Als sie endlich den Bemalten Raum erreicht hatten, nahm Arha ihren langen, schweren Winterumhang aus Wolle ab und legte ihn auf den staubigen Boden.

»Hier, leg ihn da drauf«, sagte sie.

Manan starrte in melancholischer Verwirrung auf den Umhang und keuchte: »Kleine Herrin …«

»Ich will, daß dieser Mann am Leben bleibt, Manan. Er wird hier sonst durch die Kälte sterben, schau her, wie er zittert.«

»Der Umhang wird entweiht, beschmutzt. Der Umhang der Priesterin — das ist ein Ungläubiger, ein Mann!« stieß Manan aus, und seine kleinen Augen zogen sich zusammen, als litte er Schmerzen.

»Dann werde ich den Umhang verbrennen und mir einen neuen weben lassen. Mach jetzt, Manan!«

Manan ließ den Gefangenen von seinem Rücken gleiten und auf den schwarzen Umhang fallen. Der Mann lag da wie tot, aber sein Puls klopfte stark in seiner Kehle. Ab und zu wurde er von Krämpfen geschüttelt.

»Man sollte ihn in Ketten legen«, sagte Manan unbehaglich.

»Sieht er so gefährlich aus?« spottete Arha, doch als Manan an den eisernen Ring deutete, der in die Steine eingelassen und für Gefangene bestimmt war, ließ sie ihn in den Kettenraum gehen, um eine Kette und ein Schloß zu holen. Er schlurfte davon und brummte die Anweisungen vor sich hin. Es war nicht das erste Mal, daß er hierhergekommen war, aber er war noch nie allein gegangen.

Die Gemälde an den Wänden schienen sich im Licht ihrer Laterne zu bewegen, zu zucken: große, unförmige menschliche Gestalten mit langen, hängenden Flügeln, die in zeitloser Gleichgültigkeit hockten und standen.

Sie kniete nieder und tröpfelte Wasser in den Mund des Gefangenen. Endlich hustete er und griff mit schwachen Händen nach dem Gefäß. Sie ließ ihn trinken. Er legte sich zurück, sein Gesicht war naß und mit Staub und Blut verschmiert. Er murmelte etwas, zwei oder drei Worte, in einer Sprache, die sie nicht verstand.

Manan kehrte endlich zurück, eine lange Kette mit Schloß und Schlüssel hinter sich herschleifend und einen Eisenring haltend, den er um die Taille des Mannes schlang und verschloß. »Der ist so dürr, er kann durchschlüpfen«, brummte er, als er das letzte Kettenglied an die Wand schloß.

»Nein, schau her«, Arha, die jetzt weniger Angst vor ihrem Gefangenen hatte, zeigte ihm, daß sie ihre Hand nicht zwischen den eisernen Gürtel und die Rippen des Mannes zwängen konnte. »Er kann nicht, nur wenn er noch länger als viet Tage hungert.«

»Kleine Herrin«, sagte Manan mit klagender Stimme. »Ich will ja nichts in Frage stellen, aber … wie kann er denn ein Sklave der Namenlosen werden? Er ist doch ein Mann, Kleines!«

»Und du bist ein alter Narr, Manan. Komm jetzt und hör auf zu schimpfen!«

Der Gefangene sah sie aus aufmerksamen Augen prüfend an.

»Wo ist sein Stab, Manan? Hier. Den nehme ich mit, darin steckt Zauberkraft. Oh, und das … das nehme ich auch mit«, und mit raschem Griff packte sie die Silberkette, die an dem Hals des Fremden unter seinem Wams hervorschaute, und riß sie über seinen Kopf, obwohl er ihre Arme halten und sie daran hindern wollte. Manan trat ihm heftig in den Rücken. Sie zog sie dem Fremden über den Kopf und brachte sie außer Reichweite. »Ist das dein Talisman, Zauberer? Gilt er dir viel? Er sieht ärmlich aus, konntest du dir keinen besseren leisten? Ich werde ihn sicher aufbewahren.« Sie legte sich die Kette selbst um den Hals und verbarg den Anhänger unter dem schweren Kragen ihres wollenen Kleides.

»Sie können nichts damit anfangen«, sagte er heiser. Er sprach die kargischen Worte falsch aus, aber klar genug, daß man sie verstehen konnte.

Manan trat ihn wieder in die Rippen, und der Gefangene stöhnte auf vor Schmerz und schloß die Augen.

»Laß ihn in Ruhe, Manan. Komm!«

Sie verließ den Raum. Manan folgte leise grollend.

In der Nacht, als alles dunkel war, stieg sie wieder den Hügel hinauf, allein dieses Mal. Sie füllte den Wasserbehälter am Brunnen hinter dem Thronsaal und nahm das Wasser und einen großen, flachen, ungesäuerten Laib Buchweizenbrot mit hinunter in den Bemalten Raum im Labyrinth. Sie stellte alles in Reichweite des Gefangenen innerhalb der Tür. Er schlief und rührte sich nicht. Sie kehrte ins Kleinhaus zurück, und in dieser Nacht schlief auch sie lang und tief.

Am frühen Nachmittag kehrte sie allein ins Labyrinth zurück. Das Brot war verschwunden, das Wasser getrunken, und der Gefangene saß aufrecht, mit dem Rücken zur Wand. Sein Gesicht sah immer noch schrecklich aus, verschmiert und verkrustet, aber er war wach und schaute sie aufmerksam an.

Sie stand auf der anderen Seite des Raums, wo er sie unmöglich erreichen konnte, angekettet wie er war. Sie schaute ihn an. Dann wandte sie die Augen von ihm ab. Aber es gab nichts, worauf man seine Blicke hätte richten können. Etwas hielt sie vom Reden ab. Ihr Herz klopfte laut, als ob sie Angst hätte. Es lag kein Grund vor, sich vor ihm zu fürchten. Er war in ihrer Gewalt.

»Es tut gut, Licht zu haben«, sagte er leise, mit einer tiefen Stimme, die sie verwirrte.

»Wie heißt du?« fragte sie herrisch. Sie fand, daß ihre eigene Stimme ungewöhnlich hoch und dünn klang.

»Nun, meistens werde ich Sperber genannt.«

»Sperber? Heißt du so?«

»Nein.«

»Wie heißt du denn dann?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sind Sie die Eine Priesterin der Gräber?«