»Ja.«
»Also gut, fang an.«
Er legte die Stirn auf seine Hände und änderte seine Lage.
Der eiserne Gürtel erlaubte keine richtig bequeme Stellung, nur wenn er sich ganz flach ausstreckte.
Schließlich hob er sein Gesicht hoch und blickte sie ernst an. »Arha, hören Sie mich an! Ich bin ein Magier, ein Hexenmeister, wie Sie es nennen. Ich besitze eine gewisse Macht und verfüge über bestimmte Künste. Das stimmt. Es stimmt aber auch, daß hier, an dieser Stätte, wo die Urmächte walten, meine Kraft gering ist und meine Künste mir nur wenig nutzen. Ja, ich könnte Illusionszaubereien für Sie wirken, und Ihnen alles mögliche Wunderbare zeigen. Aber das ist nur ein geringer Teil der Magie. Ich konnte Illusionszaubereien wirken, als ich noch ein Kind war, ich kann sie selbst hier wirken. Aber wenn Sie daran glauben, dann kann es gut sein, daß Sie sich davor fürchten. Und es ist gut möglich, daß Sie mich dann töten lassen, denn Furcht macht ärgerlich. Und wenn Sie nicht daran glauben, dann sehen Sie es als Lügen und Narretei an, wie Sie sagen, und ich setze mein Leben wieder aufs Spiel. Und mein Ziel, mein Wunsch in diesem Augenblick, ist, am Leben zu bleiben.«
Sie mußte lachen und sagte: »Oh, du wirst noch eine Weile am Leben bleiben, verstehst du das nicht? Bist du dumm! Also gut, zeig mir die Illusionen. Ich weiß, daß sie nicht wahr sind, und ich werde keine Angst davor haben. Ich hätte übrigens auch keine Angst davor, wenn sie wahr wären. Aber fang schon an. Deine dir so werte Haut ist heute nacht nicht gefährdet.«
Als sie das sagte, mußte auch er lachen. Sie spielte mit seinem Leben, warf es hin und her wie einen Ball.
»Was soll ich Ihnen zeigen?«
»Was kannst du mir denn zeigen?«
»Alles mögliche.«
»Wie du dauernd aufschneidest!«
»Nein«, sagte er, offensichtlich etwas gekränkt. »Es lag jedenfalls nicht in meiner Absicht.«
Er neigte den Kopf und schaute eine Weile auf seine Hände. Nichts geschah. Die Talgkerze brannte schwach und gleichmäßig in der Laterne. Die schwarzen Gemälde an der Wand, die unbeweglichen vogelflügeltragenden Gestalten mit ihren in stumpfem Rot und Weiß gemalten Augen ragten über ihm und über ihr auf. Kein Laut war zu hören. Sie seufzte, enttäuscht und irgendwie betrübt. Er war schwach; er redete groß, aber er konnte nichts tun. Er war nur ein guter Lügner, sonst nichts, nicht einmal ein guter Dieb war er. »Na ja«, sagte sie endlich und raffte ihre Röcke zusammen, um aufzustehen. Die Wolle raschelte ungewöhnlich, als sie sich bewegte. Sie blickte an sich hinunter und stand überrascht auf.
Das schwere schwarze Gewand, das sie jahrelang getragen hatte, war verschwunden; sie trug ein Kleid aus türkisfarbener Seide, weich und so hell wie der Abendhimmel. Es bauschte sich zu einer Glocke um ihre Hüften, und der Rock war mit dünnen Silberfäden und mit kleinen Perlen und winzigen Kristallen bestickt und glitzerte wie Regen im April.
Sie blickte den Zauberer sprachlos an.
»Gefällt es Ihnen?«
»Wo …?«
»Es ist wie das Gewand, das ich einst an einer Prinzessin gesehen habe, beim Fest der Sonnenwende im Neuen Palast in Havnor«, sagte er und blickte befriedigt auf sein Werk. »Sie baten mich, Ihnen etwas zu zeigen, das sehenswert ist. Ich zeige Ihnen — Sie selbst.«
»Laß es — laß es verschwinden!«
»Sie gaben mir Ihren Umhang«, sagte er vorwurfsvoll. »Darf ich Ihnen nichts geben? Aber haben Sie keine Angst, es ist nur Illusion, sehen Sie?«
Er schien keinen Finger zu heben, er sagte bestimmt kein einziges Wort, doch die blaue Seidenpracht war verschwunden, und sie stand wieder in ihrem groben schwarzen Gewand vor ihm.
Sie stand eine Weile bewegungslos da.
»Wie kann ich wissen«, sagte sie schließlich, »daß du der bist, für den ich dich halte?«
»Sie können es nicht wissen«, sagte er. »Ich weiß nicht, wofür Sie mich halten.«
Sie grübelte lange darüber nach. »Du könntest mich täuschen, du könntest mir etwas vorspiegeln, dich als …« Sie verstummte, denn er hatte eine Hand bewegt, nur ganz kurz, und nach oben gedeutet. Es war nur die Andeutung eines Zeichens gewesen. Sie dachte, daß er im Begriff sei, einen Bann zu wirken, und zog sich schnell zur Tür zurück, aber seiner Geste folgend sah sie hoch über sich, in dem dunklen Rund der Decke, das kleine Viereck, das Guckloch in der Schatzkammer des Zwillingsgöttertempels.
Kein Licht fiel durch das Guckloch, sie sah nichts, hörte nichts von oben, aber er hatte gedeutet, und sein fragender Blick lag auf ihr.
Beide rührten sich nicht.
»Deine Zauberei ist bloß Narrenspielerei, höchstens für Kinder geeignet«, sagte sie klar und deutlich. »Sie ist Betrügerei und Lüge. Ich habe genug gesehen. Du wirst den Namenlosen übergeben werden. Ich werde nicht mehr kommen.«
Sie nahm ihre Laterne und ging hinaus und schob den Eisenriegel laut krachend zu. Dann blieb sie außen an der Tür stehen, unsicher und verwirrt. Was sollte sie jetzt tun?
Wieviel hatte Kossil gehört, wieviel gesehen? Worüber hatten sie gesprochen? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sie schien nie das zu dem Gefangenen zu sagen, was sie eigentlich hatte sagen wollen. Er brachte immer alles durcheinander mit seinem Gerede von Drachen und Türmen, und Namen für die Namenlosen, und mit seinem Wunsch, am Leben bleiben zu wollen, und mit seiner Dankbarkeit für ihren Umhang. Nie sagte er das, was sie von ihm erwartete.
Sie hatte ihn nicht einmal nach dem Talisman ausgefragt, den sie an einer Kette, an ihrer Brust verborgen, um den Hals trug.
Aber das war vielleicht gut so, wenn Kossil zugehört hatte.
Nun, was machte das schon aus, was konnte Kossil schon tun? Noch während sie sich diese Frage stellte, wußte sie die Antwort: Nichts ist leichter zu töten als ein gefangener Falke. Der Mann war hilflos, angekettet in diesem Steinkäfig. Die Priesterin des Gottkönigs brauchte nur ihren Wärter Duby heute nacht herunterzuschicken, um ihn zu erwürgen; oder, wenn sie und Duby sich nicht so tief im Labyrinth auskannten, brauchte sie nur Giftstaub durch das Guckloch in den Bemalten Raum zu blasen. Sie besaß Schachteln und Gläser voll unheimlicher Giftstoffe für alle Gelegenheiten: manche zum Vergiften der Nahrung und des Wassers, andere zum Verbreiten in der Luft, die, wenn sie lange genug eingeatmet wurden, zum Tod führten. Und morgen früh würde er tot sein, und alles wäre vorbei. Und sie würde nie mehr ein Licht unter den Gräbern brennen sehen.
Arha eilte durch die engen Steingänge zum Eingang in das Untergrab, wo Manan geduldig wie eine Kröte in der Dunkelheit hockte und auf sie wartete. Die Besuche bei dem Gefangenen beunruhigten ihn. Sie ließ nicht zu, daß er sie den ganzen Weg begleitete, und so hatten sie diesen Kompromiß geschlossen. Jetzt war sie froh, daß er hier bei der Hand war. Ihm konnte sie wenigstens vertrauen.
»Manan, hör zu! Du gehst jetzt zum Bemalten Raum und sagst zu dem Mann, daß du ihn unter die Gräber führst, wo er lebendig begraben wird.« Manans kleine Augen glitzerten. »Sag das laut! Schließ die Kette auf und führ ihn …« Sie hielt inne, denn sie hatte noch nicht darüber nachgedacht, wo sie den Gefangenen am besten verbergen konnte.
»… zum Untergrab«, sagte Manan, eifrig mit dem Kopf nickend.
»Nein, du Dummkopf. Ich habe gesagt, daß du das sagen sollst, nicht tun. Warte …« Wo wäre er sicher vor Kossil und ihren Spionen? Nirgends, außer an den allertiefsten, allerheiligsten unterirdischen Orten, an den verstecktesten Plätzen im Bereich der Namenlosen, wohin sie sich nicht zu gehen getraute. Doch würde sich Kossil nicht fast überallhin zu gehen getrauen? Angst hatte sie bestimmt vor den finsteren Orten, große Angst sogar, aber sie war in der Lage, ihre Angst zu überwinden, um ihre Zwecke zu erreichen. Es war unmöglich, festzustellen, wie gut sie den Plan des Labyrinths gelernt hatte, von Thar oder von der vorhergehenden Arha, oder vielleicht von ihren eigenen geheimen Untersuchungen in den vergangenen Jahren. Arha vermutete, daß sie mehr wußte, als sie zugab. Aber einen Weg konnte sie nicht gelernt haben, dieser Weg war ein Geheimnis, das tiefste, bestgehütetste.