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»Du mußt den Mann dorthin bringen, wo ich dich hinführe, und es muß im Dunkeln geschehen. Und wenn ich dich zurückgebracht habe, mußt du hier, im Untergrab, ein Grab schaufeln und einen Sarg dafür machen, ihn leer in das Grab tun und dann das Grab wieder mit Erde zuwerfen, damit etwas da ist, wenn jemand danach sucht. Mach ein tiefes Grab! Hast du alles verstanden?«

»Nein«, sagte Manan, mißmutig und verdrießlich. »Kleines, diese Betrügerei ist nicht klug, gar nicht klug. Ein Mann hat hier nichts verloren! Ein Strafgericht wird hereinbrechen …«

»Einem alten Narren wird die Zunge herausgeschnitten, ja! Du wagst mir zu sagen, was klug ist? Ich beuge mich dem Willen der Dunklen Mächte. Folge mir jetzt!«

»Es tut mir leid, kleine Herrin, es tut mir leid …«

»Schweig!«

Sie kehrten zum Bemalten Raum zurück. Dort wartete sie im Gang, während Manan eintrat und die Kette von dem Ring an der Wand losmachte. Sie hörte die tiefe Stimme fragen: »Wohin jetzt, Manan?«, und die rauhe Altstimme antwortete mürrisch: »Du sollst lebendig begraben werden, so gebietet meine Herrin. Unter den Grabsteinen. Steh auf!« Sie hörte die schwere Kette knallen wie eine Peitsche.

Der Gefangene kam heraus, seine Arme waren mit Manans Lederriemen gefesselt. Manan kam hinterher und hielt ihn wie einen Hund an der Leine fest, aber das Band führte um seine Taille und die Leine war aus Eisen. Seine Augen wandten sich ihr zu, doch sie blies ihre Kerze aus, und ohne ein Wort zu sagen, begann sie in die Dunkelheit hineinzuschreiten. Sie nahm sofort die Gangart an, die sie sich im Labyrinth angewöhnt hatte, wenn sie kein Licht dabei hatte: langsame, aber ziemlich gleichmäßige Schritte, mit ihren Fingerspitzen leicht und fast ohne abzusetzen, die Wände links und rechts berührend. Manan und der Gefangene kamen schlurfend und stolpernd hinterher; sie bewegten sich viel schwerfälliger wegen der Kette. Aber es mußte dunkel bleiben, denn sie wollte nicht, daß einer von ihnen den Weg lernte.

Links aus dem Bemalten Raum hinaus, an zwei Öffnungen vorbei, rechts an der Viererkreuzung, eine Öffnung rechts liegen lassen, dann einen langen, geschwungenen Gang entlang und eine Treppe hinunter, eine lange Treppe mit schlüpfrigen Stufen, viel zu schmal für menschliche Füße. Weiter als diese Stufen war sie noch nie gekommen.

Die Luft war schlechter hier, abgestandener, und hatte einen durchdringenden Geruch. Die Anweisungen waren ihr ganz gegenwärtig, sie glaubte, Thars Stimme zu vernehmen, die sie ihr vorsagte. Immer weiter die Stufen hinunter (sie hörte, wie hinter ihr der Gefangene in der Finsternis stolperte und stöhnte, als ihn Manan mit einem kräftigen Ruck wieder auf die Füße stellte) und unten sofort nach links abbiegen. Halte dich links, an drei Öffnungen vorbei, dann die erste rechts und ganz rechts gehen. Die Gänge waren verwinkelt und gekrümmt, keiner verlief gerade. »Dann mußt du um den Schacht gehen«, hörte sie Thar in der Dunkelheit ihres Gehirns sprechen, »und der Weg ist ganz schmal.«

Sie verlangsamte ihre Schritte, beugte sich nach vorne und fühlte mit ihrer Hand am Boden entlang. Der Gang lief jetzt gerade, um den Wanderer in Sicherheit zu wiegen. Plötzlich fühlte ihre Hand, die unaufhörlich getastet und hin- und hergefegt war, nichts mehr. Ein Steinrand, eine Rundung und hinter dem Rand nur Leere. Die Wand rechts fiel steil ab in den Schacht. Links davon war ein Vorsprung, ein Sims, nicht viel breiter als eine Hand.

»Hier ist ein Schacht. Dreht euch gegen die Wand links, lehnt euch dagegen, geht seitlich, schiebt eure Füße. Halte die Kette, Manan … Seid ihr auf dem Sims? Er wird schmaler. Verlagert euer Gewicht nicht auf die Fersen. So, ich bin am Schacht vorbei. Gebt mir die Hand. Hier …«

Der Gang lief jetzt im Zickzack, mit vielen seitlichen Öffnungen. Aus einigen tönte das Echo ihrer Schritte auf eine seltsam hohle Weise, und noch seltsamer war ein leichter Zug, der nach innen wehte. Diese Gänge mußten in Schächten enden wie der, an dem sie gerade vorbeigegangen waren. Vielleicht lag hier, unter dem tiefsten Teil des Labyrinths, eine Höhle, ein Gewölbe, das so tief, so riesig war, daß das Untergrab daneben klein erschien, eine immense schwarze innerliche Leere. Aber über diesem Abgrund, in den dunklen Gängen, durch die sie sich bewegten, wurde es immer enger und niedriger, daß selbst Arha sich bücken mußte. Hörte das denn nie auf?

Das Ende kam plötzlich: eine verschlossene Tür. Vornübergebeugt, etwas schneller als gewöhnlich gehend, stieß Arha mit dem Kopf und den Händen dagegen. Sie tastete nach dem Schlüsselloch, dann nach dem kleinen Schlüssel mit dem Drachen am Griff, der an ihrem Ring hing und den sie noch nie benutzt hatte. Er paßte und drehte sich im Schlüsselloch. Sie öffnete die Tür zum Großen Schatz der Gräber von Atuan. Stickige, verbrauchte Luft schlug ihr entgegen.

»Manan, du kannst hier nicht eintreten. Warte hier draußen!«

»Er kann, und ich nicht?«

»Wenn du diesen Raum betrittst, Manan, wirst du ihn nicht wieder lebendig verlassen. So lautet das Gesetz, und es gilt für alle, außer für mich. Kein Sterblicher, außer mir, hat je diesen Raum lebendig wieder verlassen. Willst du hereinkommen?«

»Ich warte hier draußen«, sagte die melancholische Stimme aus der Finsternis. »Herrin, Herrin, mach die Tür nicht zu!«

Seine Angst machte sie so nervös, daß sie die Tür offenließ. Dieser ganze Ort erfüllte sie mit geheimem Grauen, und sie fühlte Mißtrauen gegen den Gefangenen in sich aufsteigen, obgleich er eingezwängt war in Eisen. Als sie drinnen war, zündete sie ihr Licht an. Ihre Hände zitterten. Die Kerze in der Laterne wollte nicht brennen. Die Luft war verbraucht und alt. Im gelben, trüben Schein des Lichtes, das nach der langen Dunkelheit hell erschien, war die Schatzkammer voll unruhiger Schatten undeutlich zu erkennen.

Sechs große Truhen befanden sich darin, alle aus Stein, alle mit dickem Staub bedeckt wie Schimmel auf Brot. Die Wände waren uneben, die Decke niedrig. Der Raum war kalt, eine tiefe, luftleere Kälte, die das Blut im Herzen zum Stocken brachte. Keine Spinnweben, nur Staub war zu sehen. Hier unten war nichts Lebendiges, nicht einmal die seltenen kleinen weißen Spinnen des Labyrinths gab es hier. Der Staub war dick, so dick, ein Staubkorn für jeden Tag, der hier vergangen war, hier, wo die Zeit stillstand, wo kein Licht je hinfieclass="underline" Tage, Monate, Jahre, Jahrhunderte, zu Staub zerfallen.

»Dies hier ist der Platz, den dugesucht hast«, sagte Arha, und ihre Stimme war ausdruckslos. »Hier ist der Große Schatz der Gräber. Du bist angelangt. Du wirst ihn nie wieder verlassen können.«

Er gab keine Antwort, und sein Gesicht war ruhig, doch in seinen Augen lag etwas, das sie berührte: eine Verzweiflung, der Blick eines Mannes, der sich betrogen fühlte.

»Du hast gesagt, daß du am Leben bleiben willst. Dies hier ist der einzige Ort, an dem du sicher bist. Kossil würde dich töten oder mich zwingen, daß ich dich töte, Sperber. Hierher kann sie nicht kommen.«

Er sagte noch immer nichts.

»Du hättest die Gräber so oder so nie verlassen können, siehst du das nicht ein? Das hier ist nicht viel anders. Du bist wenigstens ans … ans Ende deiner Reise gelangt. Was du suchst, ist hier.«

Er setzte sich auf eine der großen Truhen. Er sah erschöpft aus. Die Kette, die er hinter sich herschleifte, schlug klirrend an den Stein. Er ließ den Blick über die grauen Wände schweifen, sah die Schatten und blickte dann sie an.

Sie wandte die Augen ab und schaute auf die Steintruhen. Sie hatte keine Lust, sie zu öffnen. Es war ihr gleichgültig, welche Schätze darin verrotteten.